Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
Vom Netzwerk:
Fahrkarte besorgen, wobei ich kaum genug Gulden hatte, und dann den ganzen Zug nach dir absuchen. Und jetzt sind wir schon so lange unterwegs, dass wir auch nicht gleich wieder zurückkommen.« Seine zusammengekniffenen hellen Augen schweiften zum Fenster und auf den Stapel Briefe in meinem Schoß. »Hättest du etwas dagegen, mir zu erklären, warum du im Express nach Paris sitzt statt in der Schule?«
    Was sollte ich tun? »Es tut mir Leid, Barley«, sagte ich kleinlaut. »Ich wollte dich absolut nicht in die Sache verwickeln. Ich glaubte wirklich, dass du längst unterwegs wärst und Rektor James mit reinem Gewissen unter die Augen treten könntest. Ich wollte dir keinen Ärger machen.«
    »Ja?« Er wartete eindeutig auf genauere Aufklärung. »Dir war also irgendwie mehr nach Paris als nach Geschichtsunterricht?«
    »Nun«, sagte ich und kämpfte um Zeit, »mein Vater hat ein Telegramm geschickt, dass es ihm gut geht und ob ich nicht für ein paar Tage kommen wolle.«
    Barley schwieg einen Moment. »Entschuldige, aber das reicht nicht als Erklärung. Wenn du ein Telegramm bekommen hättest, dann hätte das gestern Abend sein müssen, und ich hätte davon gehört. Und war das irgendwie fraglich, ob es deinem Vater gut gehen würde? Ich dachte, er musste geschäftlich weg. Was liest du da eigentlich?«
    »Das Ganze ist eine lange Geschichte«, sagte ich zögernd, »und ich weiß, dass du mich für etwas seltsam hältst…«
    »Für ungeheuer seltsam«, sagte Barley ärgerlich. »Aber jetzt erzählst du mir besser, was du vorhast. Dazu reicht gerade noch die Zeit, bis wir in Brüssel sind und den nächsten Zug zurück nach Amsterdam nehmen.«
    »Nein!« Ich hatte nicht so laut reden wollen. Die Frau uns gegenüber wand sich in ihrem Schlaf, und ich senkte die Stimme. »Ich muss weiter nach Paris. Ich komme schon zurecht. Du kannst dort aussteigen und schaffst es noch heute bis zurück nach London.«
    »Dort aussteigen, wie? Heißt das, du fährst noch weiter? Wo fährt dieser Zug hin?«
    »Nein, der geht nur bis Paris…«
    Mit verschränkten Armen saß Barley da und wartete. Er war schlimmer als mein Vater. Vielleicht sogar noch schlimmer, als es Professor Rossi gewesen war. Ich hatte eine kurze Vision, wie Barley vor Studenten stand, die Arme verschränkt, und wie er den Blick über die unglücklichen Gesichter gleiten ließ. Seine Stimme klang scharf: »Und was schließlich bringt Milton zu seiner schrecklichen Schlussfolgerung über Satans Fall? Oder hat keiner hier seine Aufgaben gemacht?«
    Ich schluckte. »Das Ganze ist eine lange Geschichte«, sagte ich noch einmal.
    »Wir haben Zeit«, sagte Barley.
    »Helen, Turgut Bora und ich sahen uns über unseren kleinen Restauranttisch hinweg an, und ich spürte, wie sich eine Nähe zwischen uns entwickelte. Vielleicht um etwas Zeit zu gewinnen, griff Helen nach dem runden blauen Stein, den Bora neben ihren Teller gelegt hatte, und hielt ihn in meine Richtung. ›Das ist ein altes Symbol‹, sagte sie, ›ein Talisman gegen den bösen Blick.‹ Ich nahm den Stein in die Hand und spürte seine schwere Glätte, die warm von ihrer Hand war. Ich legte ihn zurück auf den Tisch.
    Turgut ließ sich jedoch nicht ablenken. ›Madam‹, sagte er, ›sind Sie Rumänin?‹ Sie schwieg. ›Wenn es so ist, müssen Sie sich hier vorsehen.‹ Er senkte die Stimme ein wenig. ›Die Polizei könnte sich ernsthaft für Sie interessieren. Wir stehen nicht gerade auf freundschaftlichem Fuß mit Rumänien.‹
    ›Ich weiß‹, sagte sie kühl.
    ›Aber woher wusste die Zigeunerin das?‹ Bora runzelte die Stirn. ›Sie haben nichts zu ihr gesagt.‹
    ›Ich weiß es nicht.‹ Helen zuckte hilflos mit den Schultern.
    Turgut Bora schüttelte den Kopf. ›Manche Leute sagen, dass die Zigeuner ein zweites Gesicht haben. Ich habe nie daran geglaubt, aber…‹ Er brach ab und betupfte sich den Schnurrbart mit der Serviette. ›Wie sonderbar, dass sie von Vampiren sprach.‹
    ›Ist es das?‹, fragte Helen. ›Sie muss verrückt gewesen sein. Zigeuner sind alle verrückt.‹
    ›Vielleicht, vielleicht.‹ Turgut Bora hielt einen Moment inne. ›Und doch erscheint es mir sonderbar, so wie sie sprach – denn das ist mein anderes Spezialgebiet.‹
    ›Zigeuner?‹, fragte ich.
    ›Nein, guter Mann – Vampire.‹ Helen und ich starrten ihn an, darauf bedacht, uns keine Blicke zuzuwerfen. ›Shakespeare, das ist mein Lebenswerk, aber die Vampirlegende ist mein Hobby. Wir haben hier eine alte

Weitere Kostenlose Bücher