Der Historiker
Vampirtradition.‹
›Ist das… äh… eine türkische Tradition?‹, fragte ich erstaunt.
›Oh, die Legende reicht wenigstens zurück bis ins alte Ägypten, liebe Kollegen. Hier in Istanbul geht es mit der Geschichte los, dass die blutrünstigsten unter den byzantinischen Herrschern Vampire gewesen sein sollen und manche von ihnen die christliche Kommunion als eine Einladung verstanden, das Blut von Sterblichen zu trinken. Aber ich glaube nicht daran. Ich glaube, es nahm erst später seinen Anfang.‹
›Nun…‹ Ich wollte kein zu heftiges Interesse zeigen, mehr aus Angst davor, dass Helen mir unter dem Tisch einen weiteren Tritt versetzen würde, als dass ich gedacht hätte, Turgut Bora sei mit den Mächten der Finsternis verbündet. Aber auch sie starrte ihn an. ›Was ist mit der Dracula-Legende? Haben Sie davon gehört?‹
›Gehört?‹, schnaubte Bora. Seine dunklen Augen leuchteten, und er machte einen Knoten in seine Serviette. ›Sie wissen, dass Dracula wirklich existiert hat, eine historische Person ist? Sogar ein Landsmann von Ihnen, Madam…‹ – er verbeugte sich in Helens Richtung. ›Er war ein Herr, ein voivoda einer Region zwischen den Südkarpaten und der Donau im fünfzehnten Jahrhundert, nicht gerade eine bewundernswerte Person, wissen Sie.‹
Helen und ich nickten – wir konnten nicht anders. Ich wenigstens nicht, und auch Helen schien so auf Boras Worte gespannt, dass sie sich offenbar gar nicht zurückhalten wollte. Sie hatte sich leicht vorgebeugt, hörte zu, und ihre Augen leuchteten mit dem gleichen dunklen Glanz wie seine. Unter ihrer gewohnten Blässe hatte sie Farbe bekommen. Es war einer der vielen Augenblicke, so konnte ich erkennen, in denen ihr doch recht strenges Äußere von Schönheit und einem intensiven Leuchten erfüllt wurde.
›Nun‹ – Turgut Bora schien zunehmend Gefallen an seinem Thema zu finden –, ›ich will Sie nicht damit langweilen, aber ich habe die Theorie, dass Dracula eine sehr wichtige Erscheinung in der Geschichte Istanbuls ist. Man weiß, dass er als Junge ein Gefangener hier in Gallipoli und dann drüben in Anatolien gewesen war. Sein eigener Vater hatte ihn Mehmeds Vater – Sultan Murad II. – als Geisel, als Pfand, für einen Vertrag überlassen, vier lange Jahre, von 1443 bis 1447. Draculas Vater war auch nicht gerade ein Gentleman.‹ Bora kicherte. ›Die Soldaten, die den jungen Dracula bewachten, waren Meister der Folter, und er muss zu viel von ihnen gelernt haben. Aber, meine guten Sirs‹, – in seinem kollegialen Eifer schien er Helens Geschlecht für einen Augenblick vergessen zu haben –, ›meiner Theorie nach hat er auch ihnen etwas hinterlassen.‹
›Was um alles in der Welt meinen Sie damit?‹ Mein Puls raste.
›Seit der Zeit gibt es in Istanbul Fälle von Vampirismus. Meiner Vorstellung nach – die noch unveröffentlicht ist und, wehe, sich nicht beweisen lässt –, gab es die ersten Opfer unter den Osmanen. Vielleicht waren es seine Bewacher, mit denen er sich angefreundet hatte. Er hat die Seuche in unserem Reich zurückgelassen, so würde ich es ausdrücken, und sie muss dann mit dem Eroberer nach Konstantinopel gelangt sein.‹
Wir starrten ihn sprachlos an. Mir fiel ein, dass der Legende nach nur Tote zu Vampiren wurden. Hieß das, dass Vlad Dracula in Kleinasien getötet worden war und dann zum Untoten wurde, als blutjunger Mann, oder dass er einfach nur schon sehr früh einen Hang zu unheiligem Trinken gehabt und damit andere inspiriert hatte? Ich merkte mir die Frage für den Fall, dass ich Bora je so gut kennen lernen sollte, sie ihm stellen zu können. ›Ach, wissen Sie, das ist mein exzentrisches Hobby.‹ Turgut Bora verfiel wieder in sein freundliches Lächeln. ›Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen hier solche Vorträge halte. Meine Frau sagt, ich sei nicht zu ertragen.‹ Er strahlte uns an, hob sein Glas mit einer feinen, höflichen Geste und nahm einen Schluck von seinem Tee. ›Aber eines kann ich beweisen! Ich kann beweisen, dass ihn die Sultane als Vampir fürchteten!‹ Er deutete zur Decke hinauf.
›Beweisen?‹, wiederholte ich.
›Ja! Ich bin vor ein paar Jahren darauf gestoßen. Der Sultan interessierte sich so sehr für Vlad Dracula, dass er einige seiner Papiere und Besitztümer hier gesammelt hat, nachdem Dracula in der Walachei gestorben war. Dracula hat in seinem Land viele türkische Soldaten getötet, und unser Sultan hasste ihn dafür, aber deswegen hat er sein Archiv nicht
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