Der Historiker
stellte ich sie schnell als Smith vor, was so wenig einfallsreich war, dass sich die Falten auf ihrer Stirn noch vertieften. Wir schüttelten die Hände, und uns blieb nichts anderes übrig, als den Professor an unseren Tisch zu bitten.
Er protestierte höflich, aber nur einen Moment lang, und setzte sich dann zu uns. Er brachte seinen Salat mit und sein Teeglas, das er gleich erhob. ›Auf Sie und unsere schöne Stadt‹, intonierte er. ›Cheerio!‹ Jetzt lächelte sogar Helen leicht, obwohl sie immer noch nichts sagte. ›Vergeben Sie mir meinen Mangel an Diskretion‹ sagte Dr. Bora entschuldigend zu ihr, als spürte er ihre Vorbehalte. ›Es kommt äußerst selten vor, dass ich mein Englisch mit Muttersprachlern erproben kann.‹ Er hatte noch nicht bemerkt, dass Englisch nicht ihre Muttersprache war. Was ihm nie auffallen mochte, dachte ich, da sie womöglich kein Wort über die Lippen brachte.
›Wie kamen Sie zu Shakespeare?‹, fragt ich ihn, als wir uns wieder unserem Essen zugewandt hatten.
›Ah!‹, sagte Turgut Bora sanft. ›Das ist eine seltsame Geschichte. Meine Mutter war eine sehr ungewöhnliche Frau, brillant, sie liebte Sprachen über alles und war eine äußerst ordentliche‹ – außerordentliche?, dachte ich – ›Ingenieurin. Sie studierte in Rom, wo sie auch meinen Vater kennen lernte. Er war ein reizender Mann und spezialisiert auf die italienische Renaissance, mit einem besonderen Interesse – ‹
In diesem Moment wurden wir von einer jungen Frau auf der Straße unterbrochen, die zu uns hereinblickte. Auch wenn ich Zigeunerinnen bisher nur auf Bildern gesehen hatte, hielt ich sie doch gleich für eine. Sie hatte dunkle Haut, scharf geschnittene Züge, trug schmuddelige bunte Kleider, und das grob gestutzte Haar hing um dunkle, stechende Augen. Sie konnte fünfzehn oder vierzig sein, es war unmöglich, von ihrem hageren Gesicht ihr Alter abzulesen. In den Armen hielt sie Sträuße roter und gelber Blumen, die sie uns offenbar verkaufen wollte. Sie streckte mir ein paar von ihnen entgegen und stimmte eine Art schrillen Gesang an, den ich nicht verstehen konnte. Helen wirkte angeekelt, und Turgut Bora verärgert, aber die Frau gab nicht auf. Ich wollte schon meine Brieftasche herausziehen, um Helen zum Scherz eins dieser türkischen Bouquets zu schenken, als die Zigeunerin plötzlich auf sie losging und fauchend auf sie deutete. Dr. Bora erschrak, und Helen, die sonst so furchtlos war, zuckte ebenfalls zusammen.
Das schien Turgut Bora nun allerdings zum Leben zu erwecken. Er stand halb auf und beschimpfte die Zigeunerin mit düster empörtem Blick. Es war nicht schwierig, seinen Ton und seine Gesten zu verstehen, die der Frau ohne jeden Zweifel bedeuteten, zu verschwinden. Sie starrte uns alle zusammen an und verschwand dann so plötzlich in der Menge auf der Straße, wie sie erschienen war. Turgut Bora setzte sich wieder und sah mit großen Augen auf Helen, dann, nach einem Moment, suchte er in der Tasche seines Jacketts herum und zog einen kleinen Gegenstand heraus, den er neben ihren Teller legte. Es war ein flacher blauer Stein, gut zwei Zentimeter groß, das Blau blass und fast weiß, wie ein einfaches Auge. Helen wich die Farbe aus dem Gesicht, als sie den Stein sah, berührte ihn dann aber wie instinktiv mit dem Zeigefinger.
›Was um alles in der Welt geht hier vor?‹ Ich konnte den Ärger dessen, der sich kulturell ausgeschlossen fühlte, nicht verbergen.
›Was hat sie gesagt?‹ Helen richtete zum ersten Mal das Wort an Turgut Bora. ›War das Türkisch oder die Sprache der Zigeuner? Ich habe sie nicht verstanden.‹
Unser neuer Freund zögerte, als wollte er die Worte der Frau nicht wiederholen. ›Türkisch‹, murmelte er. ›Vielleicht sollte ich es Ihnen nicht sagen. Es war äußerst unverschämt, was sie sagte. Und merkwürdig.‹ Er sah Helen mit Interesse an, aber auch mit einem leicht ängstlichen Ausdruck in seinen intelligenten Augen. ›Sie gebrauchte ein Wort, das ich nicht übersetzen werde‹, erklärte er langsam. ›Und dann sagte sie: Verschwinde hier, rumänische Wolfstochter. Du und dein Freund bringen den Fluch des Vampirs in unsere Stadt.‹
Helen war kreidebleich, und ich widerstand dem Impuls, nach ihrer Hand zu greifen. ›Das ist reiner Zufall‹, sagte ich tröstend, worauf sie mich anblitzte. Ich war ihr zu offen vor dem Professor.
Turgut Bora sah von mir zu Helen und wieder zurück zu mir. ›Das ist wirklich sehr merkwürdig, meine
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