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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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gebracht, die Urkunden des Drachenordes in einem Behältnis aufzubewahren, auf dem eine geheiligte Warnung stand?
    Turgut Boras Freund hatte ein Schlüsselbund hervorgezogen und steckte gerade einen der Schlüssel in das Schloss. Ich musste beinahe lachen, als ich an unseren modernen Katalog zu Hause dachte und die Zugänglichkeit von Tausenden seltener Bücher im Bibliothekssystem unserer Universität. Ich hatte mir nie vorgestellt, dass ich einmal Dingen nachforschen würde, für die man solch einen alten Schlüssel brauchte. Das Schloss klickte. ›Also dann‹, murmelte Turgut Bora, und der Bibliothekar zog sich zurück. Bora warf uns ein Lächeln zu, das mir ziemlich traurig vorkam, und öffnete den Deckel.«
    Wir saßen immer noch im Zug. Barley hatte gerade die ersten beiden Briefe gelesen, und es gab mir einen Stich, sie offen in seinen Händen zu sehen, aber ich wusste, dass er der Autorität meines Vaters trauen würde, während er mir vielleicht nur bedingt Glauben geschenkt hätte. »Warst du schon einmal in Paris?«, fragte ich ihn und versuchte, hinter der Frage meine Gefühle zu verstecken.
    »Das könnte man durchaus sagen«, antwortete Barley leicht unwillig. »Ich bin dort ein Jahr zur Schule gegangen, bevor ich auf die Uni kam. Meine Mutter wollte, dass ich mein Französisch verbesserte.« Wie gerne hätte ich ihn nach seiner Mutter gefragt und warum sie sich diese so schöne Fähigkeit von ihrem Sohn gewünscht hatte, und auch danach, wie es war, eine Mutter zu haben, aber Barley war schon wieder tief in seiner Lektüre vertieft. »Dein Vater muss tolle Vorlesungen halten können«, sinnierte er. »Das hier ist weit spannender als alles, was wir in Oxford zu hören bekommen.«
    Das brachte mich auf noch weit mehr Fragen. Konnten Vorlesungen in Oxford langweilig sein? War das möglich? Barley war so voller Dinge, die ich wissen wollte, er war der Bote einer Welt, die so groß war, wie ich es mir kaum vorstellen konnte. Meine Gedanken wurden vom Schaffner unterbrochen, der an unserem Abteil vorbeikam und laut »Brüssel! « rief. Der Zug verlangsamte seine Fahrt bereits, und ein paar Minuten später sahen wir aus dem Fenster in den Brüsseler Bahnhof. Zollbeamte stiegen ein. Draußen auf dem Bahnsteig eilten Leute zu ihren Zügen, und Tauben jagten Bröckchen von Fressbarem hinterher.
    Vielleicht hatte ich insgeheim etwas für die Tauben übrig, auf jeden Fall starrte ich so angestrengt in das Treiben vor dem Fenster, dass mir plötzlich eine Person auffiel, die im Unterschied zu allen anderen völlig still dastand. Es war eine Frau. Sie war groß und in einen langen schwarzen Mantel gekleidet und trug ein schwarzes Kopftuch, aus dem nur ihr weißes Gesicht hervorsah. Sie war ein Stück zu weit weg, als dass ich ihre Züge genau hätte ausmachen können, aber ich sah dunkle Augen und einen fast unnatürlich roten Mund – womöglich hatte sie einen grellen Lippenstift aufgetragen. An ihrer Silhouette war etwas Eigentümliches; unter all den Miniröcken und hässlichen Plateauschuhen trug sie schmale schwarze Pumps.
    Aber was meine Aufmerksamkeit als Erstes auf sich gezogen hatte, war die Art ihrer Wachsamkeit. Eindringlich ließ sie den Blick über unseren Zug gleiten und schien jedes Detail in sich aufzunehmen. Instinktiv zog ich mich vom Fenster zurück, und Barley sah mich fragend an. Die Frau hatte uns offensichtlich nicht gesehen, obwohl sie zu einem Schritt in unsere Richtung ansetzte. Dann änderte sie offenbar ihre Meinung und kehrte uns den Rücken zu, um den anderen Zug in Augenschein zu nehmen, der gerade am gegenüberliegenden Bahnsteig eingefahren war. Etwas an ihrer harten, aufrechten Haltung ließ mich sie anstarren, bis wir aus dem Bahnhof rollten und sie sich zwischen den herumeilenden Menschen verlor, als hätte es sie nie gegeben.

 
    28
     
     
     
    Ich war trotz Barley eingenickt. Als ich aufwachte, fand ich mich an ihn gelehnt. Mein Kopf ruhte an der Schulter seines marineblauen Pullovers. Er sah aus dem Fenster. Die Briefe meines Vaters hatte er zurück in ihre Umschläge auf seinem Schoß gesteckt. Ein Bein über das andere geschlagen, saß er nun da und sah in die Landschaft hinaus, die meiner Berechnung nach bereits französisch sein musste. Wenn ich die Augen hob, sah ich sein knochiges Kinn, senkte ich sie, kamen mir seine Hände in den Blick, die er um die Briefe gefaltet hielt. Jetzt erst fiel mir auf, dass er genau wie ich an den Fingernägeln kaute. Ich schloss die

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