Der Historiker
Augen wieder und tat so, als schliefe ich noch, weil mir die Wärme seiner Schulter gut tat. Dann aber fürchtete ich, dass er es nicht mochte, wie ich mich an ihn lehnte, und ich ihm in meinem tölpelhaften Schlummer womöglich auf den Pullover gesabbert hatte – also setzte ich mich auf. Barley wandte mir den Blick zu, die Augen voller ferner Gedanken, vielleicht auch angefüllt mit der Landschaft draußen, die nicht länger flach war, sondern sich hob und senkte, einfaches französisches Ackerland. Dann lächelte er mich an.
»Als sich der Deckel von Mehmeds geheimnisvollem Behältnis hob, drang ein Geruch daraus hervor, der mir gut bekannt war. So rochen alte, sehr alte Dokumente aus Pergament, bedeckt mit dem Staub von Jahrhunderten, Blätter, die den Widerstand gegen die Zeit aufgegeben hatten. Genauso roch auch mein kleines leeres Buch mit dem Drachen in der Mitte. Ich hatte mich nie getraut, meine Nase ganz hineinzustecken, wie ich es in unbeobachteten Momenten bei anderen alten Bänden getan hatte, mit denen ich arbeitete. Ich fürchtete, glaube ich, dass der Geruch etwas Widerliches enthalten könnte oder, schlimmer noch, eine Macht, eine böse Droge, die ich nicht inhalieren wollte.
Vorsichtig hob Turgut Bora die Dokumente aus dem Holzkasten. Jedes einzelne war in vergilbtes Seidenpapier eingepackt, und sie waren von unterschiedlicher Größe und Form. Sorgfältig breitete er sie auf dem Tisch vor uns aus. ›Ich werde Ihnen die Dokumente selbst zeigen und Ihnen sagen, was ich darüber weiß‹, sagte er. ›Dann möchten Sie vielleicht etwas hier sitzen und sie studieren, denken Sie nicht?‹ Ja, das konnte sein – ich nickte, und er nahm eine Schriftrolle und rollte sie sorgsam vor unseren Augen aus. Es war ein langes Pergament, an dem oben wie unten Holzstäbe befestigt waren, das war etwas ganz anderes als die Einzelblätter und gebundenen Journale, die ich bei meinem Studium von Rembrandts Welt gewohnt war. Die Ränder des Pergaments waren farbig, mit geometrischen Mustern geschmückt, golden, tiefblau und karminrot. Der handgeschriebene Text war zu meiner Enttäuschung auf Arabisch verfasst. Ich bin nicht sicher, was ich erwartet hatte – dieses Dokument stammte aus dem Herzen eines Reiches, in dem man türkisch sprach und auf Arabisch schrieb. Das Griechische wurde nur benutzt, um die Byzantiner zu ärgern, und Latein, um die Tore Wiens zu stürmen.
Turgut Bora las mir meine Gedanken vom Gesicht ab und beeilte sich zu erklären: ›Dieses, meine Freunde, ist ein Rechnungsbuch, in dem die Ausgaben für einen Krieg mit dem Drachenorden verzeichnet sind. Ein Beamter in einer Stadt südlich der Donau hat es geführt, der dort das Geld des Sultans verwaltete: Es ist, mit anderen Worten, eine Art Geschäftsbericht. Draculas Vater, Vlad II. Dracul, hat das Osmanische Reich in der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts eine große Menge Geld gekostet, wissen Sie. Dieser Beamte bestellte Rüstungen und – wie sagen Sie? – Krummschwerter für dreihundert Mann, um die Grenze zu bewachen, damit sich die Bevölkerung nicht auflehnte, und er kaufte auch Pferde für sie. Hier…‹ – er deutete mit einem langen Finger ganz unten auf die Rolle –, ›hier steht, dass Vlad II. Dracul teuer war und eine… eine scheußliche Plage, und dass er sie mehr Geld kostete, als der Pascha ausgeben wollte. Der Pascha ist sehr traurig, und es tut ihm Leid, und er wünscht dem Unvergleichlichen im Namen Allahs ein langes Leben.‹
Helen und ich sahen uns an, und ich glaubte, in ihren Augen etwas von der Ehrfurcht lesen zu können, die ich selbst verspürte. Dieses Stück Geschichte war so wirklich wie der steinerne Boden unter unseren Füßen und die hölzerne Tischplatte unter unseren Händen. Die Menschen, die darin verwickelt waren, hatten gelebt, geatmet und gefühlt und waren schließlich gestorben wie wir… wie wir es tun würden. Ich sah weg, weil ich das gefühlvolle Aufflackern in ihrem strengen Gesicht in diesem Moment nicht ertragen konnte.
Bora hatte das Pergament wieder zusammengerollt und verpackt und öffnete das zweite Päckchen, das zwei weitere Rollen enthielt. ›Dies hier ist ein Brief vom Pascha der Walachei, in dem er verspricht, Sultan Mehmed sämtliche Schriftstücke zu schicken, die er über den Drachenorden finden kann. Und dies ist ein Bericht über den Handel entlang der Donau im Jahre 1461, nicht weit von dem Gebiet entfernt, das der Drachenorden kontrollierte. Die Grenzen dieser
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