Der Historiker
Region, müssen Sie verstehen, waren nicht fest, sie veränderten sich ständig. Hier unten sind Seidenstoffe, Gewürze und Pferde auf gelistet, um die der Pascha bittet, damit er sie gegen die Wolle der Schäfer in seinem Bereich tauschen kann.‹ Die nächsten beiden Rollen enthielten ähnliche Berichte. Dann entfaltete Bora ein kleineres Seidenpapier, das eine Zeichnung auf einem Blatt Pergament enthielt. ›Eine Landkarte‹, sagte er. Ich machte unwillkürlich eine Handbewegung in Richtung meiner Aktentasche, in der sich Rossis Skizzen und Aufzeichnungen befanden, aber Helen schüttelte fast unmerklich den Kopf. Ich wusste, was sie meinte: Wir kannten Bora nicht gut genug, um all unsere Geheimnisse vor ihm auszubreiten. Noch nicht, korrigierte ich mich im Stillen. Schließlich offenbarte er ganz augenscheinlich all seine Quellen.
›Mir ist es nie gelungen zu enträtseln, was diese Karte zeigen soll, werte Kollegen‹, sagte Bora. Bedauern lag in seiner Stimme, und nachdenklich strich er sich über den Schnurrbart. Ich sah mir das Pergament genauer an und erkannte mit einem Schauer, dass es sich um eine genaue, wenn auch verblichene Version der ersten Karte handelte, die Rossi kopiert hatte. Ich sah die langen Bergkämme und den sich windenden Fluss nördlich davon. ›Das ähnelt keiner Gegend, mit der ich mich je beschäftigt habe, und es gibt keinen Anhaltspunkt für den – wie sagen Sie? – Maßstab der Karte, wissen Sie?‹ Er legte sie zur Seite. ›Hier ist noch eine, die eine Gegend auf der ersten Karte genauer wiederzugeben scheint.‹ Ich wusste, dass es so war – ich kannte sie bereits, und meine Erregung wuchs. ›Ich glaube, das hier sind die Berge, die man westlich auf der ersten Karte sieht, nicht wahr?‹ Er seufzte. ›Aber es gibt keine weitere Information, und wie Sie sehen, ist auch kaum etwas beschriftet, bis auf ein paar Zeilen aus dem Koran und dieses seltsame Motto. Ich habe es einmal sorgsam übersetzt, es bedeutet in etwa: Hier ist er behaust mit dem Bösen. Leser, grab ihn mit deinen Worten aus.‹
Erschreckt hatte ich die Hand gehoben, um ihn zu stoppen, aber Bora hatte zu schnell gesprochen und mich überrascht. ›Nein!‹, rief ich, aber zu spät, so dass Bora mich erstaunt anblickte. Helen sah zwischen uns beiden hin und her, und Mr Erozan blickte von seiner Arbeit auf der anderen Seite des Raumes auf und starrte mich ebenfalls an. ›Entschuldigen Sie‹, flüsterte ich, ›ich bin einfach nur ganz aufgeregt wegen all dieser Dokumente. Sie sind so… interessant.‹
›Oh, ich freue mich, dass Sie diese Dinge interessant finden.‹ Bora strahlte fast trotz seiner Bedächtigkeit. ›Und diese Worte klingen auch etwas seltsam. Sie jagen einem – wissen Sie? – Angst ein.‹
In diesem Moment hörte man einen Schritt an der Tür. Ich sah mich nervös um und erwartete schon halb, Dracula persönlich hereinkommen zu sehen. Aber es war nur ein kleiner Mann mit einer gehäkelten Kappe und einem zerzausten grauen Bart. Mr Erozan ging zur Tür, um ihn zu begrüßen, und wir wandten uns wieder unseren Dokumenten zu. Bora holte ein weiteres Pergament aus dem Holzkasten. ›Das hier ist das letzte Schriftstück‹, sagte er. ›Ich habe es nie verstanden. Es wird im Bibliothekskatalog als Bibliografie des Drachenordens geführt.‹
Mein Herz tat einen Satz, und ich sah, wie sich Helens Wangen röteten. ›Eine Bibliografie?‹
›Ja, mein Freund.‹ Bora breitete sie vorsichtig auf dem Tisch vor uns aus. Sie sah ziemlich alt und brüchig aus und war in einer eleganten Handschrift in Griechisch geschrieben. Oben rollte sich das Pergament, als wäre es einstmals Teil einer längeren Rolle gewesen, und der untere Rand zeigte eindeutig, dass etwas abgerissen worden war. Es gab keinerlei Verzierungen auf dem Blatt, nur ordentlich geschriebene Wortreihen. Ich seufzte. Ich hatte Griechisch nie gelernt, obwohl ich sowieso bezweifelte, dass mich bei solch einem Dokument etwas anderes als völlige Beherrschung der Sprache weitergebracht hätte.
Als erriete er mein Problem, holte Bora ein Notizbuch aus seiner Tasche. ›Ich habe mir das von einem Professor für Byzantinistik an unserer Universität übersetzen lassen. Er hat eine hinreißende Kenntnis der Sprache und Urkunden. Es ist eine Zusammenstellung von Büchern und Schriften, obwohl ich viele der Titel nie woanders erwähnt gefunden habe.‹ Er öffnete sein Notizbuch und strich über eine Seite, die eng auf Türkisch beschrieben war.
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