Der Historiker
Jetzt seufzte Helen. Bora schlug sich an die Stirn. ›Oh, millionenfaches Pardon‹, sagte er. ›Hier, ich werde für Sie die Titel der Reihe nach übersetzen, gut? Herodot, Die Behandlung von Kriegsgefangenen; Pheseus, Über Vernunft und Folter; Origenes, Abhandlung über die Ersten Prinzipien; Euthymius der Ältere, Das Schicksal der Verdammten; Gubent von Gent, Abhandlung über die Natur; Thomas von Aquin, Sisyphus. Sehen Sie, es ist eine ziemlich merkwürdige Auswahl, und einige der Bücher sind sehr selten. Mein Freund, der Professor für Byzantinistik, hat mir beispielsweise erklärt, dass es ein Wunder wäre, wenn eine bis heute unbekannte Version dieser Abhandlung des frühchristlichen Philosophen Origenes irgendwo überlebt haben sollte. Fast das gesamte Werk des Origenes wurde zerstört, weil man ihn der Ketzerei angeklagt hatte.‹
›Welcher Ketzerei?‹ Helen sah interessiert aus. ›Ich bin sicher, irgendwo von ihm gelesen zu haben.‹
›Er wurde angeklagt, weil er in seiner Abhandlung vertreten haben soll, es sei eine Frage christlicher Logik, dass selbst der Satan gerettet und wieder auferstehen wird‹, erklärte Bora. ›Soll ich fortfahren?‹
›Wenn es Ihnen nichts ausmacht‹, sagte ich. ›Könnten Sie die Titel vielleicht gleichzeitig für uns auf Englisch aufschreiben?‹
›Mit größtem Vergnügen.‹ Turgut setzte sich mit dem Notizbuch hin und zog einen Stift hervor.
›Was hältst du von alldem?‹, fragte ich Helen. Ihr Gesicht sagte klarer als alle Worte: Haben wir diese ganze Reise wegen eines verrückten Bücherverzeichnisses unternommen? ›Ich weiß, das alles ergibt noch keinen Sinn‹, sagte ich mit leiser Stimme zu ihr, ›aber lass uns doch sehen, wo es uns hinführt.‹
›Nun denn, meine Freunde, lassen Sie mich Ihnen die nächsten Titel vorlesen.‹ Turgut Bora schrieb gut gelaunt mit. ›Fast alle von ihnen haben mit Folter, Tod oder sonst einer Unannehmlichkeit zu tun: Erasmus, Das Schicksal eines Meuchelmörders; Henricus Curtius, Die Kannibalen, Giorgio von Padua, Die Verdammten.‹
›Erscheinungsdaten stehen keine dabei?‹, fragte ich und beugte mich vor.
Bora seufzte. ›Nein. Und es ist mir nie gelungen, andere Verweise auf einige dieser Werke zu finden. Von denen, die ich gefunden habe, wurde keines nach 1600 verfasst.‹
›Was hundert Jahre nach Vlad Dracula heißt‹, bemerkte Helen. Erstaunt sah ich sie an; daran hatte ich nicht gedacht. Es war simpel, aber absolut richtig und ziemlich verwirrend.
›Ja, liebe Madam‹, sagte Bora und sah zu ihr auf. ›Die letzten dieser Bücher wurden mehr als hundert Jahre nach Draculas Tod geschrieben und damit auch nach dem Tod von Sultan Mehmed. Aber ach, ich habe keinen Hinweis darauf finden können, wann und wie diese Bibliografie Teil der Sammlung Sultan Mehmeds geworden ist. Jemand muss sie später hinzugefügt haben, vielleicht lange nachdem die Sammlung nach Istanbul kam.‹
›Aber vor 1930‹, sinnierte ich.
Turgut Bora sah jetzt mich scharf an. ›Das ist das Datum, als die Sammlung unter Verschluss kam‹, sagte er. ›Warum sagen Sie das, Professor?‹
Ich spürte, wie ich rot wurde, weil ich zu viel gesagt hatte – so viel, dass sich Helen aus Verzweiflung über meine Dummheit wegdrehte – und weil ich natürlich noch kein Professor war. Ich schwieg eine Weile. Ich habe es immer gehasst zu lügen, meine liebe Tochter, und versuche, wenn eben möglich, es nie zu tun.
Turgut musterte mich, und mir wurde auf unangenehme Weise bewusst, dass mir bis jetzt der außergewöhnliche Eifer seiner dunklen, von leutseligen Krähenfüßen umrahmten Augen nicht aufgefallen war. Ich holte tief Luft. Die Sache mit Helen würde ich später ausfechten. Ich hatte Turgut von Beginn an getraut, und es war gut möglich, dass er uns weit besser helfen konnte, wenn er mehr erfuhr. Um noch einen Moment Bedenkzeit zu gewinnen, sah ich jedoch noch einmal auf das Verzeichnis hinunter, das er für uns übersetzt hatte, und warf gleich darauf einen Blick auf die türkische Übersetzung, mit der er gearbeitet hatte. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Wie viel von dem, was wir wussten, sollte ich ihm erzählen? Wenn ich mein gesamtes Wissen über das, was Rossi hier erlebt hatte, vor ihm ausbreitete, würde er dann unsere Ernsthaftigkeit in Zweifel ziehen oder uns gar für verrückt halten? Und gerade weil ich vor lauter Unentschiedenheit die Augen gesenkt hielt, sah ich plötzlich etwas Merkwürdiges, das mich die
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