Der Historiker
Hand nach dem griechischen Original der Bibliografie des Drachenordens ausstrecken ließ. Es war nicht alles griechisch. Deutlich konnte ich den Namen ganz unten auf dem Pergament erkennen: Bartolomeo Rossi. Darauf folgte ein Satz auf Latein.
›Großer Gott!‹ Mein Ausruf holte die ruhig im Raum Arbeitenden ein weiteres Mal aus ihrer Konzentration. Mr Erozan, der immer noch mit dem Mann mit der Kappe und dem langen Bart sprach, drehte sich fragend zu uns um.
Turgut Bora war sofort alarmiert, und auch Helen trat heran. ›Was ist?‹ Bora streckte die Hand nach der Bibliografie aus. Ich starrte immer noch darauf. Es war keine Schwierigkeit für ihn, meinem Blick zu folgen. Schon sprang er auf und stieß hervor, was ein Echo meiner eigenen Erregung hätte sein können, ein so klares Echo, dass es mich inmitten dieser Unglaublichkeit seltsam tröstete. ›Mein Gott! Professor Rossi!‹
Alle drei sahen wir uns gegenseitig an, und eine Weile sagte niemand etwas. Schließlich versuchte ich es. ›Kennen Sie…‹, fragte ich Bora mit gedämpfter Stimme, ›kennen Sie den Namen?‹
Bora sah erst mich und dann Helen an. ›Und Sie?‹, fragte er endlich.«
Barley lächelte freundlich. »Du musst müde gewesen sein, sonst hättest du nicht so tief geschlafen. Allein der Gedanke, in was für einem Schlamassel du steckst, macht auch mich schon ganz verrückt. Was würden die Leute sagen, wenn du ihnen das alles erzähltest – irgendwem, meine ich? Der Frau dort zum Beispiel…« Er nickte zu unserer dahindösenden Mitreisenden hinüber, die auch in Brüssel nicht ausgestiegen war und offenbar bis Paris durchschlafen wollte. »Oder einem Polizisten. Alle würden denken, du wärst völlig durchgedreht.« Er seufzte. »Und du hattest wirklich vor, ganz allein bis nach Südfrankreich zu fahren? Ich wünschte, du sagtest mir, wohin genau du willst, statt mich raten zu lassen, dann könnte ich Mrs Clay telegrafieren und du kriegtest den größtmöglichen Ärger.«
Jetzt war es an mir zu lächeln. An diesem Punkt waren wir schon mehrmals gewesen.
»Du bist wirklich stur«, stöhnte Barley. »Nie hätte ich gedacht, dass ein einzelnes kleines Mädchen so viel Ärger bedeuten könnte – wobei ich besonders den meine, der mir bei Rektor James blüht, wenn ich dich irgendwo mitten in Frankreich allein lasse, weißt du.« Das trieb mir fast die Tränen in die Augen, aber seine nachfolgenden Worte trockneten sie, bevor sie sich tatsächlich bilden konnten. »Wenigstens haben wir in Paris Zeit, etwas zu Mittag zu essen, bevor wir in den nächsten Zug müssen. Am Gare du Nord gibt es die köstlichsten Sandwiches, und wir können meine Francs ausgeben.« Es war sein »wir«, das mir das Herz erwärmte.
29
Aus einem modernen Zug in jene großartige Reisearena zu treten, den Gare du Nord mit seiner himmelwärts strebenden Konstruktion aus altem Eisen und Glas, seiner reifrockgleichen, lichtgefüllten Schönheit, das ist ein Schritt direkt hinein nach Paris. Barley und ich stiegen mit unseren Taschen in der Hand aus dem Zug und blieben für eine Weile ruhig stehen, um das alles in uns aufzunehmen. Zumindest tat ich es, obwohl ich schon oft dort angekommen war, auf der Durchreise mit meinem Vater. Der Bahnhof war erfüllt vom Lärm bremsender Züge, rufender Leute, vom Laufen und Pfeifen, dem Schlagen der Taubenflügel und Klingeln von Münzen. Ein alter Mann mit einer schwarzen Baskenmütze kam mit einer jungen Frau am Arm an uns vorbei. Sie hatte schön frisiertes rotes Haar und trug rosa Lippenstift, und ich stellte mir eine Sekunde lang vor, mit ihr zu tauschen. Oh, so auszusehen, Pariserin zu sein, erwachsen, mit hochhackigen Stiefeln und wirklichen Brüsten, und dazu auch noch einen alternden Künstler an der Seite zu haben! Dann kam mir der Gedanke, dass es womöglich ihr Vater war, und ich fühlte mich plötzlich sehr einsam.
Ich wandte mich Barley zu, der offenbar mehr die Gerüche in sich gesogen hatte als die Bilder. »Mann, habe ich einen Hunger«, sagte er. »Lass uns etwas Gutes essen!« Zielstrebig lief er auf eine Ecke des Bahnhofs zu, als wüsste er den Weg auswendig, und wie sich tatsächlich herausstellte, kannte er nicht nur den Weg, sondern auch den Senf, den es dort gab, und die Auswahl dünn geschnittenen Schinkens. Wir aßen zwei riesige Sandwiches, die in weißes Papier eingeschlagen waren. Barley machte sich nicht einmal die Mühe, sich auf die Bank zu setzen, die ich für uns
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