Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
Vom Netzwerk:
Stunde fertig sein. Erst wollte ich den Schutz des Hofes nicht verlassen, aber auf dem Weg draußen unter den ausladenden Bäumen war es angenehm kühl, und so liefen wir an alten Ruinen vorbei, die einmal ein großes, elegantes Haus gewesen sein mussten. Barley kletterte über den Zaun, und ich folgte ihm. Steine waren heruntergestürzt, und man sah nur mehr eine »Skizze« der ursprünglichen Wände, allein ein bröckelnder, aber noch stehender Turm zeugte von vergangener Größe. In der halb offenen Scheune lag etwas Stroh, als würde das Gebäude immer noch als Speicherraum genutzt. Ein großer Balken war zwischen die Verschläge gefallen.
    Barley setzte sich auf die Steintrümmer und sah mich an. »Wie ich sehe, bist du wütend«, sagte er herausfordernd. »Dass ich dich aus unmittelbarer Gefahr rette, dagegen hast du nichts, aber die Unannehmlichkeiten, die es bedeutet, die passen dir nicht.«
    Barleys Gemeinheit nahm mir für einen Moment den Atem. »Wie kannst du nur…«, sagte ich endlich und entfernte mich. Ich hörte, wie er aufstand und hinter mir herkam.
    »Wärest du lieber im Zug geblieben?«, fragte er mit einer etwas zivileren Stimme.
    »Natürlich nicht.« Ich sah ihn nicht an. »Aber du weißt so gut wie ich, dass mein Vater bereits in Saint-Matthieu sein kann.«
    »Dracula, oder wer immer der Kerl war, ist noch nicht da.«
    »Aber jetzt hat er einen Tag Vorsprung«, sagte ich und sah über die Felder. Hinter einer fernen Reihe Pappeln sah man die Dorfkirche. Alles war friedlich wie auf einem Gemälde, nur Ziegen oder Kühe fehlten.
    »Zunächst einmal«, sagte Barley (und ich hasste ihn für seinen belehrenden Ton), »wissen wir nicht, wer das im Zug war. Vielleicht war es gar nicht der Schuft selbst. Wenn man die Briefe deines Vaters richtig versteht, hat er seine Helfershelfer, stimmt’s?«
    »Umso schlimmer«, sagte ich. »Wenn das einer seiner Helfershelfer war, ist er selbst vielleicht schon in Saint-Matthieu.«
    »Oder…«, sagte Barley, aber hielt dann inne. Ich wusste, was er hatte sagen wollen: Oder vielleicht ist er hier bei uns.
    »Wir haben ihm klar gezeigt, wo wir ausgestiegen sind«, sagte ich, um ihm das Weitersprechen zu ersparen.
    »Wer ist jetzt hier gemein?« Barley trat hinter mich, legte mir etwas unbeholfen einen Arm um die Schultern, und ich begriff, dass er wenigstens so getan hatte, als glaubte er meinem Vater. Die Tränen, die darum gekämpft hatten, unter meinen Lidern zu bleiben, kamen hervor und liefen mir über das Gesicht. »Komm schon«, sagte Barley. Ich legte meinen Kopf an seine Schulter, und sein Hemd war warm von Schweiß und Sonne. Nach einer Weile hob ich den Kopf wieder, und wir gingen zu einem schweigsamen Abendessen im Garten des Bauernhauses.
    »Auf unserem Weg zurück sagte Helen nichts mehr, und so begnügte ich mich damit, unter den Leuten um uns herum nach Anzeichen von Feindseligkeit zu suchen und mich von Zeit zu Zeit umzusehen, ob uns jemand folgte. Als wir schließlich bei unserer Pension ankamen, waren meine Gedanken wieder bei unserem entmutigenden Mangel an Informationen angelangt, wie wir nach Rossi suchen sollten. Wie sollte uns die Liste der Bücher helfen, von denen manche offensichtlich nicht einmal mehr existierten?
    ›Komm mit zu mir‹, sagte Helen ohne weitere Umschweife, sobald wir vor unserer Pension standen. ›Wir müssen uns ungestört unterhalten.‹ Ihre völlig fehlenden fraulichen Skrupel hätten mich bei anderer Gelegenheit amüsiert, aber jetzt wirkte sie so fest entschlossen, dass ich mich nur fragen konnte, was sie im Sinn hatte. Nichts hätte weniger verführerisch sein können als ihr Gesichtsausdruck in diesem Moment. Das Bett in ihrem Zimmer war ordentlich gemacht, und ihre wenigen Besitztümer hatte sie weggeräumt. Sie setzte sich ans Fenster und bedeutete mir mit einer Geste, mich auf den Stuhl zu setzen. ›Hör zu‹, sagte sie, legte den Hut ab und zog sich die Handschuhe aus. ›Ich habe über etwas nachgedacht. Mir scheint, wir sind an einer wirklichen Grenze angekommen, was die Suche nach Rossi betrifft.‹
    Ich nickte mürrisch. ›Genau das geht mir seit einer halben Stunde durch den Kopf. Aber vielleicht findet Bora ja etwas bei seinen Freunden heraus.‹
    Sie schüttelte den Kopf. ›Die Jagd ist aussichtslos‹, sagte sie. ›Ich denke allerdings, dass wir eine sehr wichtige Sache außer Acht gelassen haben.‹
    Ich starrte sie an. ›Was sollte das sein?‹
    ›Meine Mutter‹, sagte sie rundheraus.

Weitere Kostenlose Bücher