Der Historiker
›Du hattest Recht, mich nach ihr zu fragen, als wir noch in Amerika waren. Ich habe den ganzen Tag über sie nachgedacht. Sie kannte Professor Rossi lange vor dir, und ich habe sie nie wirklich nach ihm gefragt, nachdem sie mir erzählt hatte, dass er mein Vater sei. Ich weiß nicht, warum nicht, abgesehen davon, dass es ihr wehtat, über ihn zu sprechen. Dazu kommt‹, seufzte sie, ›dass meine Mutter keine einfache Person ist. Ich habe nicht geglaubt, dass sie meinem Wissen über Rossis Arbeit etwas hinzufügen konnte. Selbst als sie mir im letzten Jahr erzählte, dass Rossi an die Existenz Draculas geglaubt hatte, habe ich nicht weiter nachgefragt – ich weiß, wie abergläubisch sie ist. Aber jetzt frage ich mich doch, ob sie nicht etwas weiß, das uns helfen könnte, ihn zu finden.‹
Schon bei ihren ersten Worten war ein Gefühl von Hoffnung in mir aufgekeimt. ›Aber wie können wir mit ihr sprechen? Ich dachte, sie hat kein Telefon.‹
›Nein, das hat sie nicht.‹
›Wie dann?‹
Helen drückte ihre Handschuhe zusammen und schlug sie sich dann elegant aufs Knie. ›Wir werden zu ihr fahren müssen. Sie lebt in einer kleinen Stadt bei Budapest.‹
›Was?‹ Das alles zerrte an meinen Nerven. ›Oh, wie einfach! Wir müssen nur in den Zug springen, du mit deinem ungarischen und ich mit meinem – autsch! – amerikanischen Pass, und schon halten wir mit deiner Mutter einen kleinen Schwatz über Dracula.‹
Unerwarteterweise lächelte Helen mich daraufhin an. ›Kein Grund, so aufzubrausen, Paul‹, sagte sie. ›Wir haben ein Sprichwort in Ungarn: Wenn etwas unmöglich ist, dann könnte es klappen.‹
Ich musste lachen. ›In Ordnung. Was für einen Plan hast du? Du hast doch immer einen.‹
›Ja, so ist es.‹ Sie strich ihre Handschuhe glatt. ›Genauer gesagt hoffe ich, meine Tante wird einen haben.‹
›Deine Tante?‹
Helen sah aus dem Fenster auf den brüchigen Putz der alten Häuser auf der anderen Straßenseite. Es war fast Abend, und das mediterrane Licht, das ich bereits lieben gelernt hatte, vertiefte sich auf allem, worauf es draußen fiel, zu Gold. ›Meine Tante arbeitet seit 1948 im ungarischen Innenministerium, und sie hat es zu einigem Einfluss gebracht. Meine Stipendien habe ich letztlich ihr zu verdanken. In meiner Heimat gelingt dir nichts ohne eine Tante oder einen Onkel. Sie ist die ältere Schwester meiner Mutter, und sie und ihr Mann haben ihr auch geholfen, aus Rumänien nach Ungarn zu fliehen, wo meine Tante bereits lebte, kurz bevor ich geboren wurde. Wir stehen uns sehr nahe, und sie wird tun, worum immer ich sie bitte. Ich denke, ich werde sie anrufen. Im Gegensatz zu meiner Mutter besitzt sie ein Telefon.‹
›Du meinst, sie könnte deine Mutter ans Telefon holen, damit sie mit uns sprechen…?‹
Helen stöhnte. ›Mein Gott, glaubst du, wir könnten am Telefon über etwas so Persönliches und Heikles reden?‹
›Tut mir Leid‹, sagte ich.
›Nein, wir fahren hin. Meine Tante wird alles arrangieren. Dann können wir von Angesicht zu Angesicht mit meiner Mutter sprechen. Im Übrigen‹ – ein sanfterer Tonfall schlich sich in ihre Stimme – ›wird sie sich sehr freuen, mich wiederzusehen. Es ist nicht sehr weit von hier, und ich habe meine Familie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen.‹
›Nun‹, sagte ich, ›ich bin zu so ziemlich allem bereit, auch wenn mir die Vorstellung schwer fällt, einfach so im Walzerschritt einen Abstecher ins kommunistische Ungarn zu machen.‹
›Ah‹, sagte Helen. ›Dann würde es für dich wohl noch schwerer sein, dir vorzustellen, auch im Walzerschritt, wie du sagst, ins kommunistische Rumänien zu reisen?‹
Ich schwieg eine Weile. ›Ich weiß‹, sagte ich schließlich. ›Ich habe natürlich auch darüber nachgedacht. Wenn Draculas Grab nicht in Istanbul ist, wo sonst könnte es dann sein?‹
Für einen Augenblick hingen wir jeder unseren Gedanken nach und waren weit, weit voneinander entfernt, dann regte sich Helen wieder. ›Ich werde unsere Wirtin fragen, ob wir von unten aus anrufen dürfen. Meine Tante wird bald zu Hause sein, und ich möchte sofort mit ihr sprechen.‹
›Kann ich mitkommen?‹, fragte ich. ›Schließlich betrifft mich das alles genauso.‹
›Sicher.‹ Helen zog ihre Handschuhe wieder an, und wir gingen zusammen nach unten, um unserer Wirtin unser Ansinnen vorzutragen. Es kostete uns zehn Minuten, unsere Absichten zu erklären, und mit ein paar türkischen Extralira und dem
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