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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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hatte den Fehler begangen, so intensiv zu mir herüberzusehen, dass ich sein Gesicht plötzlich klar von der Menge unterscheiden konnte. Dann war er weg, wie ein Geist schien er sich zwischen den gut gelaunten Touristen aufgelöst zu haben. Ich schoss nach vorn und stieß Helen dabei fast um, aber es hatte keinen Zweck. Der Mann war verschwunden, er hatte gesehen, dass ich ihn entdeckt hatte. Sein Gesicht, trotz des merkwürdigen Barts und der neuen Kappe, war zweifellos ein Gesicht gewesen, das ich von meiner Universität her kannte.
    Zuletzt hatte ich es gesehen, bevor man es mit einem Tuch bedeckt hatte: Es war das Gesicht des toten Bibliothekars.

 
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    Ich habe einige Fotografien von meinem Vater aus der Zeit, bevor er die Vereinigten Staaten verließ, um nach Rossi zu suchen. Als ich die Bilder in meiner Kindheit zum ersten Mal sah, wusste ich jedoch nichts darüber, was nach ihnen kam. Eines von ihnen, das ich mir vor ein paar Jahren habe rahmen lassen und das nun über meinem Schreibtisch hängt, ist noch ein Schwarzweißbild – damals wurde der Schwarzweißfotografie gerade erste Konkurrenz von Schnappschüssen in Farbe gemacht. Dieses Bild zeigt meinen Vater so, wie ich ihn nie gekannt habe. Er sieht direkt in die Kamera und hat das Kinn leicht angehoben, als wolle er dem Fotografen auf etwas antworten, das der gerade sagt. Wer der Fotograf war, werde ich nie erfahren. Ich habe vergessen, meinen Vater zu fragen, ob er sich daran erinnerte. Helen kann es nicht gewesen sein, aber vielleicht war es ein Freund oder Studienkollege. 1952 – nur das Jahr hat mein Vater hinten auf der Fotografie notiert – war er bereits anderthalb Jahre Doktorand und hatte seine Arbeit über die niederländischen Kaufleute in Angriff genommen.
    Auf dem Foto scheint er, den gotischen Steinmetzarbeiten im Hintergrund nach zu schließen, neben dem Universitätsgebäude zu stehen. Ein Bein hat er schwungvoll auf eine Bank gestellt und den Arm darauf gelegt, die Hand baumelt anmutig neben dem Knie. Er trägt ein weißes oder helles Frackhemd, eine diagonal gestreifte Krawatte, eine schwarze Hose mit Bügelfalte und glänzende Schuhe. Gebaut ist er so, wie ich ihn von später kenne: von mittlerer Größe, normaler Schulterbreite und einer gepflegten Schlankheit, die er auch in seinen mittleren Jahren nicht verlor. Seine tief liegenden Augen sind auf dem Foto grau, waren tatsächlich aber dunkelblau. Mit diesen Augen und den buschigen Augenbrauen, den vorstehenden Wangenknochen, der breiten Nase und den dicken Lippen, die ein Lächeln formen, hat er fast eine affenartige Anmutung – einen Ausdruck tierischer Intelligenz. Wenn das Foto ein Farbfoto wäre, würde sein nach hinten gekämmtes Haar bronzefarben im Sonnenlicht leuchten. Ich weiß um die Farbe, denn er hat sie mir einmal beschrieben. Solange ich ihn kenne, war er immer nur weiß.
     
     
    »In jener Nacht in Istanbul tat ich kein Auge zu. Zum einen hätte schon allein der Schrecken des Augenblicks ausgereicht, mich am Schlafen zu hindern, in dem ich zum ersten Mal das Gesicht eines lebenden Toten sah und zu verstehen versuchte, was ich da nur gesehen hatte. Dann aber spürte ich auch unsere schreckliche Verwundbarkeit durch die Papiere in unserer Tasche, denn der tote Bibliothekar hatte mich zweifellos gesehen, und er wusste, dass Helen und ich eine Kopie der Karte besaßen. War er hier in Istanbul, weil er uns gefolgt war, oder hatte er irgendwie herausgefunden, dass sich das Original der Karte hier befinden musste? Oder, falls er seine Schlüsse nicht allein gezogen hatte, verfügte er über eine Wissensquelle, von der wir keine Ahnung hatten? Er hatte die Dokumente in Sultan Mehmeds Sammlung wenigstens einmal eingesehen. Hatte er die Originalkarten als solche erkannt und kopiert? Ich konnte all diese Rätsel nicht lösen und es ganz sicher nicht riskieren einzuschlummern, wenn ich an die Gier dieser Kreatur nach der Karte dachte und daran, wie er Helen in der Bibliothek angefallen hatte, um sie in seinen Besitz zu bringen. Die Tatsache, dass er Helen dabei gebissen und vielleicht Geschmack an ihr gefunden hatte, machte mich nur noch nervöser.
    Und zu alldem, das längst ausgereicht hätte, meine Augen weit aufzuhalten, während die Stunden immer langsamer verstrichen, kam auch noch dieses schlafende Gesicht nicht weit von mir – wenn es mir auch nicht wirklich nahe war. Ich hatte darauf bestanden, dass Helen in meinem Bett schlief und ich in dem

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