Der Historiker
während unseres Aufenthalts vor Ärger zu bewahren.‹
Helen lachte. ›Das ist ihre Spezialität. Nur deshalb bin ich hier und arbeite nicht im Kulturzentrum zu Hause bei uns im Dorf.‹
Wir gingen wieder nach unten und traten in stillem Einverständnis hinaus auf die Straße. ›Im Moment können wir nicht viel tun‹, überlegte ich. ›Wir müssen auf Boras Ergebnisse warten und darauf, was deine Tante erreicht. Ich muss sagen, diese ganze Warterei fällt mir schwer. Was sollen wir in der Zwischenzeit machen?‹
Helen stand im immer noch goldener werdenden Licht der Straße und dachte nach. Sie trug wieder Hut und Handschuhe, und die tief stehenden Strahlen der letzten Sonne ließen ein leichtes Rot in ihrem schwarzen Haar aufscheinen, das ihr auf den Nacken fiel. ›Ich würde gern mehr von der Stadt sehen‹, sagte sie endlich. ›Schließlich komme ich womöglich nie wieder her. Sollen wir doch noch einmal zur Hagia Sophia gehen? Wir könnten bis zum Essen ein wenig durch das Viertel dort bummeln.‹
›Ja, das würde ich auch gern.‹ Auf dem Weg zu dem großartigen Bauwerk sprachen wir nicht, und als wir uns ihm näherten und ich sah, wie seine Kuppeln und Minarette in der Straße vor uns auftauchten, spürte ich, wie sich unser Schweigen noch vertiefte, als ob wir den Abstand zwischen uns verringerten. Ich fragte mich, ob Helen das Gleiche fühlte und ob es der Bann dieses mächtigen Gotteshauses war, das nach uns in unserer Kleinheit langte. Ich brütete immer noch über dem, was uns Turgut Bora am Tag zuvor gesagt hatte – dass er glaube, Dracula habe diese Stadt mit einem Fluch belegt. ›Helen‹, sagte ich, obwohl ich das Schweigen zwischen uns eigentlich nicht brechen wollte, ›glaubst du, dass er hier in Istanbul begraben worden sein könnte? Das würde zumindest Sultan Mehmeds Ängste nach seinem Tod erklären, oder?‹
›Bitte? Ah… ja.‹ Sie nickte und schien es gutzuheißen, dass ich seinen Namen nicht auf offener Straße aussprach. ›Das ist eine interessante Idee, aber würde Mehmed es dann nicht erfahren haben? Und müsste Bora nicht Hinweise darauf gefunden haben? Ich kann nicht glauben, dass so etwas über die Jahrhunderte unentdeckt geblieben wäre.‹
›Und es ist auch schwer zu glauben, dass Mehmed es erlaubt haben würde, einen seiner Feinde hier in Istanbul zu begraben – wenn er davon erfahren hätte.‹
Sie schien darüber nachzudenken. Wir waren fast am großen Eingang zur Hagia Sophia angekommen.
›Helen‹, sagte ich langsam.
›Ja?‹ Wir blieben zwischen den Menschen stehen, den Touristen und Pilgern, die durch das große Tor strebten. Ich trat dicht an sie heran, so dass ich sehr leise sprechen konnte, fast in ihr Ohr.
›Wenn die Möglichkeit besteht, dass das Grab hier ist, könnte das bedeuten, dass sich auch Rossi in der Stadt befindet.‹
Sie drehte sich zu mir und sah mir ins Gesicht. Ihre Augen glänzten, und zwischen ihren dunklen Brauen waren feine Alters- und Sorgenlinien zu sehen. ›Aber natürlich, Paul.‹
›Im Führer heißt es, dass Istanbul auf etlichen unterirdischen Bauten steht – Katakomben, Zisternen –, genau wie Rom. Wir haben mindestens noch einen Tag, bevor wir abreisen. Wir sollten mit Bora darüber reden.‹
›Das klingt vernünftig‹, sagte Helen. ›Der Palast der byzantinischen Kaiser muss ebenfalls einen unterirdischen Bereich gehabt haben.‹ Fast hätte sie gelächelt, aber dann wanderte ihre Hand hoch zu ihrem Halstuch, als ob sie dort etwas quälte. ›Was immer vom Palast übrig ist, muss sowieso voller böser Geister sein… Ich meine, Kaiser, die ihren Cousins die Augen ausstachen und so weiter, das ist doch genau die richtige Gesellschaft.‹
Weil wir uns gegenseitig die Gedanken vom Gesicht ablasen und gemeinsam darüber nachdachten, wohin diese seltsame, gewaltige Jagd führen mochte, sah ich mir die Gestalt nicht gleich genau an, die mich plötzlich intensiv in den Blick zu nehmen schien. Wobei es auch keine große, bedrohliche Erscheinung war, sondern ein ziemlich kleiner, schmaler Mann, der durch nichts aus der Menge herausstach und etwa sieben, acht Meter entfernt an der Fassade der Hagia Sophia lehnte.
Dann, in einem Augenblick des Schreckens, erkannte ich den kleinen Gelehrten mit dem zerzausten grauen Bart, der gehäkelten weißen Kappe, dem tristen Hemd und der ebenso tristen Hose, der am Morgen ins Archiv gekommen war. Aber die nächste Sekunde brachte noch einen weit größeren Schrecken. Der Mann
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