Der Historiker
schäbigen Sessel sitzen würde. Die zwei-, dreimal, als meine Augen zuzufallen drohten, schickte ein Blick auf ihr starkes, tiefernstes Gesicht eine Angstwelle durch mich hindurch, die mich wie ein Schwall kalten Wassers aufschrecken ließ. Helen hatte in ihrem eigenen Bett schlafen wollen – was sollte die Wirtin denken, wenn sie davon erfuhr? –, aber ich drängte sie, bis sie, unwillig zwar, nachgab und ich ein Auge auf sie haben konnte. Ich hatte zu viele Filme gesehen oder zu viele Romane gelesen, um daran zu zweifeln, dass eine Frau, die nachts für Stunden allein gelassen wird, das nächste Opfer des bösen Dämons sein würde. Helen war müde genug, um schlafen zu können, wie ich an den tiefen Schatten unter ihren Augen sehen konnte. Dennoch war ganz versteckt bei ihr auch ein Hauch von Angst zu spüren, und dieser nur eben spürbare Hauch ängstigte mich mehr, als es das in Angst aufgelöste Schluchzen einer anderen Frau getan hätte. Es war, als hätte mir jemand Koffein in die Adern injiziert. Vielleicht hing es auch mit dem Matten und Weichen zusammen, das von ihrer aufrechten Haltung und breitschultrigen Bestimmtheit Besitz ergriffen hatte, dass ich wach blieb. Sie schlief auf der Seite, eine Hand unter meinem Kissen, auf dessen Weiß ihre Locken dunkler denn je wirkten.
Ich vermochte mich nicht zum Lesen oder Schreiben zu entschließen. Ganz sicher hatte ich keinerlei Verlangen danach, meine Aktentasche zu öffnen, die ich unter das Bett, in dem Helen schlief, geschoben hatte. Aber die Stunden vergingen, und vom Flur draußen war kein geheimnisvolles Kratzen zu hören, kein Schnüffeln am Schlüsselloch, unter der Tür quoll kein Rauch hervor, lautlos, und auch die Fensterläden bewegten sich nicht auf ihren Angeln. Endlich drang ein leichtes Grau in den dämmrigen Raum, und Helen seufzte, als spürte sie den nahenden Tag. Als schließlich eine Hand breit Sonnenlicht durch die Spalten der Läden gelangte, begann sie sich zu regen. Ich nahm meine Jacke, zog die Aktentasche, so ruhig ich konnte, unter dem Bett hervor und ließ sie taktvoll allein, um unten in der Diele auf sie zu warten.
Es war noch keine sechs Uhr, aber der Geruch von starkem Kaffee zog durchs Haus, und zu meiner Überraschung fand ich Turgut Bora auf einem der mit besticktem Stoff bezogenen Sessel sitzen, mit einer schwarzen Aktenmappe auf dem Schoß. Er sah erstaunlich ausgeruht und wach aus, und als er mich sah, sprang er auf und reichte mir die Hand. ›Guten Morgen, mein Freund. Dank sei den Göttern, dass ich Sie gleich treffe.‹
›Auch ich bin Ihnen dankbar, dass Sie schon hier sind‹, sagte ich und sank in den weichen Sessel neben ihm. ›Aber was bringt Sie schon so früh hierher?‹
›Ah, ich konnte nicht länger warten, wo ich doch Neuigkeiten für Sie habe.‹
›Neuigkeiten habe ich auch‹, sagte ich düster. ›Aber erzählen Sie zuerst, Dr. Bora.‹
›Sagen Sie Turgut zu mir‹, sagte er zerstreut. ›Sehen Sie hier.‹ Er begann, die Kordel von der Mappe aufzubinden. ›Wie ich Ihnen versprochen habe, bin ich gestern Abend meine Unterlagen durchgegangen. Ich habe Kopien von den Materialien in den Archiven gemacht, wie Sie schon gesehen haben, und ich habe viele verschiedene Berichte über die Ereignisse in Istanbul zu Lebzeiten Vlads und direkt nach seinem Tod gesammelt.‹
Er seufzte. ›Einige dieser Berichte sprechen von mysteriösen Ereignissen in der Stadt, von Todesfällen, Gerüchten von Vampirismus. Zusätzlich habe ich alle Informationen gesammelt, die über den Drachenorden in der Walachei zu finden waren. Aber letzte Nacht konnte ich nirgends etwas Neues, Hilfreiches entdecken. Also rief ich meinen Freund Selim Aksoy an. Er ist nicht an der Universität, er hat einen Laden, aber er ist ein sehr gelehrter Mensch. Er weiß mehr als jeder andere in Istanbul über Bücher, und ganz besonders über Bücher, die von der Geschichte und den Legenden unserer Stadt berichten. Er ist ein sehr gütiger Mensch, und er gewährte mir einen Großteil seines Abends, um mit mir seine Bibliothek zu durchforsten. Ich bat ihn, auch nach dem kleinsten Hinweis auf das Begräbnis von jemandem aus der Walachei hier in Istanbul im fünfzehnten Jahrhundert zu suchen, oder nach Indizien dafür, dass es irgendwo hier ein Grab gibt, das mit der Walachei, Transsilvanien oder dem Drachenorden zu tun haben könnte. Ich zeigte ihm – und das nicht zum ersten Mal – meine Kopien der Karten und mein Drachenbuch und erklärte
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