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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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und dachte dabei nicht an die eventuelle Möglichkeit, dass Mr Aksoy das Wort noch andernorts gesehen haben mochte, sondern vielmehr an diese so quälende Verbindung zwischen Istanbul, in dessen Mitte wir uns befanden, und dem fernen Rumänien.
    ›Ja.‹ Turgut lächelte so freudig, als hätten wir uns gerade über die Speisekarte fürs Frühstück unterhalten. ›Die für den Balkan zuständigen Inspektoren waren äußerst besorgt wegen etwas hier in Istanbul, so besorgt, dass sie jemanden zum Grab Draculas nach Snagov schickten.‹
    ›Aber was haben sie da verdammt noch mal gefunden?‹ Ich schlug mit der Faust auf die Armlehne meines Sessels. ›Was haben die Mönche berichtet? Und was hat sie in derartigen Schrecken versetzt?‹
    ›Das ist genau mein Staunen‹, versicherte Turgut mir. ›Wenn Vlad Dracula dort friedlich ruhte, warum sorgte man sich dann seinetwegen Hunderte Kilometer entfernt, hier in Istanbul? Und wenn sich Draculas Grab tatsächlich im Kloster Snagov befindet und immer dort war, warum zeigen die Karten dann eine andere Gegend?‹
    Ich konnte der Treffsicherheit seiner Fragen nur Achtung zollen. ›Es gibt noch etwas‹, sagte ich. ›Glauben Sie, es besteht tatsächlich die Möglichkeit, dass Dracula hier in Istanbul begraben wurde, Turgut? Würde das Mehmeds Besorgnis auch noch nach seinem Tod erklären? Und die Fälle von Vampirismus, die es hier seitdem gab?‹
    Turgut faltete die Hände und legte einen Finger an sein Kinn. ›Das ist eine wichtige Frage. Um sie beantworten zu können, werden wir Hilfe brauchen, und vielleicht ist mein Freund Selim genau die richtige Person dafür.‹
    Eine Weile saßen wir uns schweigend in der immer noch dämmrigen Diele der Pension gegenüber, und der Geruch von Kaffee umfing uns – neue Freunde, die eine uralte Frage zusammengeführt hatte. Schließlich erhob sich Turgut. ›Wir müssen auf jeden Fall weitersuchen, noch weiter. Selim sagt, er geht mit uns in das Archiv, sobald Sie bereit sind. Er kennt Zeugnisse aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die dort bewahrt sind und die ich selbst nie richtig beachtet habe, weil sie mit meinem Interesse an Dracula wenig zu tun zu haben schienen. Wir werden sie zusammen einsehen. Zweifellos wird Mr Erozan sich freuen, all diese Dokumente für uns herauszusuchen, bevor das Archiv für das Publikum geöffnet wird. Ich rufe ihn an. Er wohnt in der Nähe des Archivs und kann es für uns öffnen, bevor Selim zur Arbeit muss. Aber wo ist Miss Rossi? Hat sie sich noch nicht erhoben?‹
    Was Turgut Bora sagte, brachte die Gedanken in meinem Kopf durcheinander, und ich wusste nicht, worauf ich zuerst kommen sollte. Als er die Sprache auf den mit ihm befreundeten Bibliothekar brachte, musste ich plötzlich wieder an unseren Bibliothekars-Feind denken, den ich in der Aufregung über den Brief fast vergessen hätte. Ich hatte jetzt die seltene Aufgabe, Turguts Fantasie auf die Probe zu stellen, indem ich ihm vom Besuch eines Toten erzählte – aber vielleicht erstreckte sich sein Glaube an historische Vampire ja auch auf die heutige Zeit. Dann wieder erinnerte mich die Frage nach Helen daran, dass ich sie bereits unentschuldbar lange allein gelassen hatte. Ich hatte sie beim Aufwachen nicht mit meiner Anwesenheit stören wollen und war davon ausgegangen, dass sie mir bald schon nach unten folgen würde. Warum war sie noch nicht da? Turgut sprach immer noch. ›Selim ist – er schläft nie, wissen Sie –, er ist seinen Morgenkaffee trinken gegangen, weil er Sie nicht gleich überfallen wollte, aber, ah… da ist er ja!‹
    Die Glocke der Pensionstür läutete, und ein schmaler Mann trat ein und zog die Tür hinter sich zu. Wahrscheinlich hatte ich eine illustre Person erwartet, einen alternden Mann in einem Geschäftsanzug, aber Selim Aksoy war jung und schlank, trug eine weite, ziemlich abgewetzte dunkle Hose und dazu ein weißes Hemd. Mit einem neugierigen, eindringlichen Ausdruck, das kein wirkliches Lächeln war, eilte er zu uns herüber. Erst als ich seine knochige Hand schüttelte, fielen mir seine grünen Augen und die lange, dünne Nase auf. Ich hatte dieses Gesicht bereits einmal gesehen, und zwar aus nächster Nähe. Es dauerte eine Sekunde, bis ich wusste, wo, dann erinnerte ich mich plötzlich an eine schlanke Hand, die mir einen Shakespeare-Band gereicht hatte. Es war der Buchhändler aus dem kleinen Laden am Rande des Basars.
    ›Aber wir kennen uns doch bereits!‹, rief ich aus, und er rief gleichzeitig

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