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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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ich konnte ihre Gedanken nicht lesen. ›Doch meine Einschätzung war eindeutig richtig. Einen sterblichen Mann hätten die Schüsse ernsthaft verletzt.‹ Sie seufzte und rückte die Kompresse zurecht.
    Ich sah verwirrt von einem zum anderen. ›Trägst du die Pistole schon die ganze Zeit mit dir herum?‹, fragte ich Helen.
    ›Oh ja.‹ Sie zog sich Aksoys Arm über die Schulter. ›Hier, hilf mir bitte, ihn aufzurichten.‹ Zusammen stellten wir Mr Aksoy auf die Beine, er war leicht wie ein Kind. Er lächelte und nickte und machte sich schließlich von uns los. ›Ja, ich habe immer meine Pistole bei mir, wenn ich mich… unwohl fühle. Und es ist nicht so schwer, ein oder zwei Silberkugeln zu bekommen.‹
    ›Das stimmt.‹ Turgut nickte.
    ›Aber wo hast du gelernt, so zu schießen?‹ Ich war immer noch fassungslos, wie schnell Helen die Pistole gezogen und geschossen hatte.
    Helen lachte. ›In meiner Heimat ist die Ausbildung so breit, wie sie schmal ist‹, sagte sie. ›Mit sechzehn habe ich in unserer Jugendbrigade einen Preis im Schießen gewonnen. Ich bin froh, dass ich es nicht verlernt habe.‹
    Plötzlich stieß Turgut einen Schrei aus und schlug sich an die Stirn. ›Mein Freund!‹ Wir alle starrten ihn an. ›Mein Freund – Mr Erozan! Ich habe ihn vollkommen vergessen.‹
    Es kostete uns kaum eine Sekunde zu verstehen, was er meinte. Selim Aksoy, der sich erholt zu haben schien, eilte als Erster zwischen die Regale, wo er sich seine Beule geholt hatte. Der Rest von uns schwärmte schnell im lang gestreckten Raum aus, suchte unter Tischen und hinter Stühlen. Ein paar Minuten lang schien alles Suchen vergeblich. Dann hörten wir Selim rufen und liefen zu ihm. Er kniete zwischen den Regalen, am Fuß eines Regals, das voll gepackt war mit allen möglichen Kästen und Schachteln, Hüllen und Schriftrollen. Der Holzkasten mit den Schriftstücken über den Drachenorden lag auf dem Boden neben ihm, der reich verzierte Deckel war offen, und sein Inhalt war teilweise auf dem Boden verstreut.
    Zwischen diesen alten Zeugnissen lag Mr Erozan auf dem Boden ausgestreckt, weiß und still, sein Kopf hing zur Seite. Turgut kniete sich nieder und legte ihm das Ohr auf die Brust. ›Gott sei Dank‹, sagte er endlich, ›er atmet.‹ Dann untersuchte er ihn näher und deutete auf den Hals seines Freundes. Tief im weichen, blassen Fleisch, genau über dem Hemdkragen, war eine tiefe Wunde. Helen kniete neben Turgut. Keiner sagte etwas. Nach allem, was ich bislang gehört und mit eigenen Augen gesehen hatte, selbst nach Helens Verletzung in der Bibliothek daheim, konnte ich nicht glauben, was ich da sah. Das Gesicht des Mannes war schrecklich blass, fast grau, und sein Atem kam in flachen, kurzen Zügen, kaum vernehmlich, wenn man nicht genau hinhörte.
    ›Er ist vergiftet‹, sagte Helen ruhig. ›Ich glaube, er hat eine Menge Blut verloren.‹
    ›Verflucht sei dieser Tag!‹ Turguts Gesicht war qualverzerrt, und er hielt die Hand seines Freundes fest in seinen Händen.
    Helen war die Erste, die sich erholte. ›Lasst uns vernünftig überlegen. Vielleicht ist es das erste Mal, dass er angegriffen wurde.‹ Sie wandte sich an Turgut. ›Gestern ist Ihnen an ihm nichts aufgefallen?‹
    Er schüttelte den Kopf. ›Er war völlig normal.‹
    ›Gut, dann…‹ Sie langte in ihre Kostümtasche, und ich schreckte unwillkürlich zurück, weil ich schon dachte, sie wolle die Pistole wieder herausziehen. Stattdessen kam eine Knoblauchknolle zum Vorschein, die sie dem Bibliothekar auf die Brust legte. Trotz des Ernstes der Situation musste Turgut lächeln, und auch er zog eine Knolle aus der Tasche und legte sie neben ihre. Ich hatte keine Ahnung, woher Helen den Knoblauch hatte – vielleicht von unserem Spaziergang durch den souk, als ich mich von anderen Dingen hatte ablenken lassen? ›Ich sehe, dass große Geister dieselben Gedanken haben‹, sagte Helen zu Bora. Dann holte sie ein kleines Päckchen hervor, wickelte es aus, und zum Vorschein kam ein kleines silbernes Kruzifix. Ich erkannte es als das, das wir in der katholischen Kirche in der Nähe unserer Universitätsbibliothek gekauft hatten und das sie benutzt hatte, um den üblen Bibliothekar abzuwehren, als er sie in der Geschichtsabteilung der Bibliothek angegriffen hatte.
    Nach einer Minute richtete sich Mr Erozan auf und sah sich um; dabei tastete er nach seinem Hals, als schmerzte er. Als seine Finger die kleine Wunde mit dem trocknenden Blut spürten,

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