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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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verbarg er das Gesicht in den Händen und schluchzte. Es war ein herzzerreißendes Geräusch.
    Turgut legte ihm einen Arm um die Schultern, und Helen fasste den Bibliothekar beim Ellbogen. Unwillkürlich dachte ich, dass das nun schon das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit war, dass ich sie auf so sanfte Weise einem leidenden Menschen beistehen sah. Turgut begann den Mann auf Türkisch zu befragen, und nach ein paar Minuten setzte er sich zurück in die Hocke und sah uns an. ›Mr Erozan sagt, dass der Fremde heute Morgen sehr früh in seine Wohnung gekommen sei – als es noch dunkel war –, und er habe gedroht, ihn umzubringen, wenn Erozan ihm die Bibliothek nicht öffnete. Der Vampir war bei ihm, als ich heute Morgen mit ihm telefonierte, aber Mr Erozan traute sich nicht, es mir zu sagen. Als der Fremde hörte, wer angerufen hatte, habe er gesagt, dass sie sofort ins Archiv müssten. Mr Erozan hatte Angst, und als sie hier ankamen, zwang ihn der Mann, den Holzkasten zu öffnen. Kaum dass er auf war, sprang ihn der Teufel auch schon an und drückte ihn zu Boden – mein Freund sagt, er sei unglaublich stark gewesen –, und dann habe er ihm die Zähne in den Hals gedrückt. An mehr erinnert sich Mr Erozan nicht.‹ Turgut schüttelte traurig den Kopf. Plötzlich packte Mr Erozan Turguts Arm und schien ihn um etwas zu bitten, überschüttete ihn mit einem Schwall türkischer Worte.
    Turgut schwieg, nahm dann die Hände seines Freunds in seine, drückte die Gebetsschnur hinein und antwortete ihm leise. ›Er sagt, er weiß, dass er nur noch zweimal von diesem Teufel gebissen werden braucht, bevor er selbst einer wird. Er hat mich gebeten, falls es so weit kommen sollte, ihn mit meinen eigenen Händen zu töten.‹ Turgut wandte sich ab, und ich glaubte, Tränen in seinen Augen schimmern zu sehen.
    ›So weit wird es nicht kommen.‹ Helens Gesicht wirkte hart. ›Wir werden die Quelle dieser Seuche finden.‹ Ich wusste nicht, ob sie den bösen Bibliothekar oder Dracula selbst meinte, aber als ich sah, mit welcher Entschlossenheit sie die Kiefer zusammenbiss, da glaubte ich fast, dass es uns am Ende gelingen könnte, beide zu besiegen. Ich hatte diesen Gesichtsausdruck bei ihr schon einmal gesehen, und die Erinnerung trug mich zurück an den Tisch des Cafés zu Hause, wo wir über ihre Eltern gesprochen hatten. Da hatte sie gelobt, ihren untreuen Vater zu finden und ihn vor der akademischen Welt zu demaskieren. Bildete ich es mir nur ein, überlegte ich jetzt, oder hatte sich ihr Ziel mittlerweile verändert, ohne dass sie es selbst bemerkt hätte?
    Selim Aksoy war hinter uns auf und ab gegangen, und nun sprach er wieder mit Turgut Bora. Turgut nickte. ›Mr Aksoy hat mich daran erinnert, weshalb wir hergekommen sind, und er hat Recht. Bald werden die ersten Leute ins Archiv wollen, und wir müssen es entweder schließen oder öffnen. Er bietet an, sein Geschäft heute geschlossen zu halten und hier Dienst zu tun. Aber erst müssen wir die Dokumente einsammeln und prüfen, welchen Schaden sie erlitten haben. Vor allem aber müssen wir einen Platz für meinen Freund zum Ausruhen finden. Darüber hinaus möchte Mr Aksoy uns etwas zeigen, bevor die anderen Benutzer hier sind.‹
    Ich fing an, die verstreuten Dokumente einzusammeln, und sah gleich, dass sich meine schlimmsten Befürchtungen bestätigten. ›Die Karten sind verschwunden‹, sagte ich düster. Wir suchten überall in den Regalen, aber die Karten von dieser merkwürdigen Gegend, die aussah wie ein langschwänziger Drache, waren verschwunden. Es blieb nur der Schluss, dass der Vampir sie noch vor unserer Ankunft eingesteckt haben musste. Es war ein trostloser Gedanke. Natürlich hatten wir die von Rossi und Bora angefertigten Kopien, aber die Originale waren für mich ein Schlüssel zu Rossis Aufenthaltsort, eine engere Verbindung als alles, was ich bisher in Händen gehalten hatte.
    Zur Entmutigung, diesen Schatz verloren zu haben, kam der Gedanke, der teuflische Bibliothekar könnte ihr Geheimnis noch vor uns entschlüsseln. Wenn Rossi beim Grab Draculas war, wo immer es sich auch befand, hatte der bösartige Bibliothekar jetzt die Chance, uns bei der Jagd danach auszustechen. Mehr noch als zuvor empfand ich, wie dringend und zugleich fast unmöglich es war, meinen geliebten Doktorvater zu finden. Wenigstens war Helen dabei fest auf meiner Seite, das wurde mir in diesem Moment wieder bewusst.
    Selim und Turgut hatten sich neben dem Verletzten beraten, und

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