Der Historiker
wenn ich die Ruhe besessen hätte, über die Art seines Verlangens nachzudenken – ob ihn nach Wissen dürstete oder etwas anderem –, ich hätte nicht die Zeit gehabt, auch nur einen Gedanken zu fassen. Bevor ich noch einen Schritt zwischen Helen und diese abscheuliche Gestalt tun konnte, zog sie eine Pistole aus ihrer Jackentasche und erschoss ihn.«
35
Ich erlebte Helen später noch in einer Vielzahl anderer Situationen, einschließlich derer, die wir das normale Leben nennen, und nie hörte sie auf, mich zu überraschen. Was mich immer wieder an ihr erstaunte, waren ihre schnellen Assoziationen, die sie zwischen zwei Dingen anstellte, Assoziationen, die gewöhnlich zu Ergebnissen führten, die ich selbst nur langsam erreicht hätte. Und auch die wundervolle Breite und Tiefe ihres Wissens nahm mir mitunter den Atem. Helen war voller Überraschungen, und nach und nach betrachtete ich diese Überraschungen als meine tägliche Kost, eine angenehme Sucht, die ich danach entwickelte, wie sie mich immer wieder neu unvorbereitet erwischte. Aber nie wieder hat sie mich so erschreckt wie in diesem Moment in Istanbul, als sie plötzlich den Bibliothekar erschoss.
Ich hatte jedoch keine Zeit zum Erschrecktsein, denn der Kerl stolperte zur Seite und schleuderte uns ein Buch entgegen, das meinen Kopf nur knapp verfehlte. Es traf einen Tisch irgendwo links von mir, und ich hörte, wie es auf den Boden schlug. Helen schoss noch einmal, trat vor und zielte mit einer Ruhe, die mir den Atem nahm. Dann wurde mir bewusst, wie merkwürdig sich diese Kreatur da vor uns verhielt. Ich hatte nie gesehen, wie jemand erschossen wurde, nur im Kino, aber dort hatte ich bereits mit elf, ach, Tausende von Indianern durch Kugeln sterben sehen, später jede Sorte von Halunken, Bankräubern und Schurken, einschließlich all der Nazis, die im leidenschaftlichen Kriegs-Hollywood zum Abschuss freigegeben waren. Das Seltsame an dieser ersten wirklichen Erfahrung war, dass, obwohl auf den Kleidern des Bibliothekars irgendwo unterhalb des Brustbeins ein dunkler Fleck erschien, der Getroffene sich nicht mit schmerzverkrampfter Hand die Wunde hielt. Der zweite Schuss streifte seine Schulter, aber da rannte der Kerl bereits und flüchtete zwischen die Regale ganz hinten im Saal.
›Eine Tür!‹, rief Turgut hinter mir. ›Da hinten ist eine Tür!‹ Und alle rannten wir hinter ihm her, stolperten über Stühle und drängten uns zwischen den Tischen durch. Selim Aksoy, schlank und flink wie eine Antilope, erreichte die Regale als Erster und verschwand zwischen ihnen. Wir hörten ein Raufen und ein Krachen, und dann schlug tatsächlich eine Tür, und wir sahen Mr Aksoy aus einem Gestöber brüchiger osmanischer Handschriften mit einer blauroten Beule auf einer Wange auftauchen. Turgut rannte zur Tür, ich hinter ihm her, aber sie war fest verschlossen. Als wir sie endlich aufbekamen, fanden wir uns in einer Gasse wieder, in der bis auf einen Stapel Holzkisten nichts zu sehen war. Im Laufschritt durchsuchten wir das sich anschließende Labyrinth von Straßen und Gassen, aber es gab keine Spur von der Kreatur oder seiner Flucht. Turgut packte ein paar Passanten am Kragen, aber niemand hatte unseren Mann gesehen.
Widerwillig kehrten wir durch die Hintertür ins Archiv zurück und fanden Helen, die Selim Aksoy ihr Taschentuch auf die Wangen hielt. Die Waffe war nirgends zu sehen, und die Manuskripte lagen wieder säuberlich im Regal. Helen blickte auf, als wir hereinkamen. ›Er hat eine Minute lang das Bewusstsein verloren, aber er ist wieder in Ordnung.‹
Turgut kniete sich neben seinen Freund. ›Mein lieber Selim, was für eine Beule du hast.‹
Selim Aksoy lächelte schwach. ›Ich bin in guten Händen‹, sagte er.
›Das kann ich sehen‹, stimmte Turgut ihm zu. ›Madam, ich gratuliere Ihnen zu dem Versuch, aber es ist sinnlos, einen Toten umbringen zu wollen.‹
›Woher wissen sie…?‹, keuchte ich.
›Oh, ich kenne das‹, sagte er grimmig. ›Ich weiß, wie so ein Gesicht aussieht. Es ist der Ausdruck der Untoten. Kein anderes Gesicht sieht so aus. Ich habe es schon früher gesehen.‹
›Es war eine Silberkugel.‹ Helen drückte das Taschentuch noch etwas fester auf Aksoys Wange und legte seinen Kopf an ihre Schulter. ›Aber wie Sie gesehen haben, hat er sich bewegt, und ich habe sein Herz verfehlt. Ich weiß, es war ein großes Risiko, gleich zu schießen…‹ Einen Moment lang sah sie mich eindringlich an, aber
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