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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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eine Anzahl von Kirchen weiter als Gotteshäuser zu benutzen, und gewährte den alten byzantinischen Einwohnern etliche Vorteile.‹
    ›Und versklavte fünfzigtausend von ihnen‹, warf Helen trocken ein. ›Vergessen Sie das nicht.‹
    Turgut Bora schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln. ›Madam, gegen Sie kann ich nicht bestehen. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass unsere Sultane keine Ungeheuer waren. Wenn sie eine Gegend einmal erobert hatten, waren sie oft ziemlich tolerant – nach damaligen Maßstäben natürlich. Es war allein die Eroberung, die nicht so erfreulich ausfiel.‹ Er zeigte auf die gegenüberliegende Wand des Lesesaals. ›Dort drüben hängt Seine Herrlichkeit Mehmed II. selbst, wenn Sie ihm Ihren Gruß entrichten wollen.‹ Ich ging hinüber, um ihn mir anzusehen, auch wenn Helen starrköpfig an ihrem Platz stehen blieb. Die eingerahmte Reproduktion, offenbar die billige Kopie eines Aquarells, zeigte einen stämmigen, sitzenden Mann mit einem weißroten Turban. Seine Haut war hell, der Bart gepflegt, die Brauen und die braunen Augen waren fein gezeichnet. Er hielt eine Rose an seine große Hakennase, roch daran und sah in die Ferne. Er wirkte eher wie ein Sufi-Mystiker, nicht wie ein ruchloser Herrscher.
    ›Es ist ein recht überraschendes Porträt‹, sagte ich.
    ›Ja, er war ein hingebungsvoller Förderer der Künste und Architektur, viele schöne Gebäude hier gehen auf ihn zurück.‹ Bora tippte sich mit einem Finger ans Kinn. ›Nun, meine Freunde, was denken Sie von dem Bericht, den Selim Aksoy entdeckt hat?‹
    ›Er ist interessant‹, sagte ich höflich, ›aber ich kann nicht erkennen, wie er uns bei der Suche nach dem Grab helfen soll.‹
    ›Das kann ich auch nicht‹, gab Turgut zu. ›Dennoch fällt mir eine gewisse Ähnlichkeit auf zwischen dieser Passage und dem Brief, aus dem ich Ihnen heute Morgen vorgelesen habe. Die Unruhen um das Grab im Kloster Snagov, um was immer es sich da im Einzelnen gehandelt haben mag, ereigneten sich im selben Jahr: 1477. Wir wissen, dass es das Jahr ist, nachdem Vlad Dracul getötet wurde, und dass es eine Gruppe Mönche war, die sich so sehr um die Geschehnisse dort sorgte. Könnte es sich nicht um dieselben Mönche handeln? Oder eine Gruppe, die mit Snagov zu tun hatte?‹
    ›Möglicherweise‹, sagte ich, ›aber das ist eine Annahme. In dem Bericht steht nur, dass es sich um Mönche aus den Karpaten handelte. Die Karpaten müssen damals voller Klöster gewesen sein. Wie könnten wir sicher sein, dass sie aus dem Kloster Snagov kamen? Helen, was denkst du?‹
    Ich musste sie mit meiner Frage überrascht haben, weil sie mich mit einer Schwermut ansah, die ich noch nicht bei ihr kannte. Aber der Ausdruck verflüchtigte sich sofort, vielleicht hatte ich ihn mir auch nur eingebildet. Oder sie hatte an ihre Mutter und unsere bevorstehende Reise nach Ungarn gedacht. Wo immer sie mit ihren Gedanken gewesen sein mochte, sie sammelte sich schnell. ›Ja, es gab viele Klöster in den Karpaten. Paul hat Recht, ohne zusätzliche Hinweise können wir die beiden Gruppen nicht so ohne weiteres miteinander in Verbindung bringen.‹
    Ich hatte den Eindruck, Bora sehe enttäuscht aus, und er wollte gerade etwas sagen, als wir von einem pfeifenden Keuchen unterbrochen wurden. Es kam von Mr Erozan, der immer noch auf Boras Jackett am Boden lag. ›Er hat das Bewusstsein verloren!‹, rief Turgut. ›Wir schwatzen hier wie die Elstern…‹ Er hielt seinem Freund den Knoblauch unter die Nase, und Erozan spuckte und wachte wieder auf. ›Schnell, wir müssen ihn nach Hause bringen. Professor, Madam, helfen Sie mir. Wir rufen ihm ein Taxi und bringen ihn zu mir in die Wohnung. Meine Frau und ich werden uns dort um ihn kümmern. Selim bleibt hier im Archiv. Es öffnet in wenigen Minuten.‹ Auf Türkisch wandte er sich mit ein paar schnellen Sätzen an Aksoy.
    Dann richteten Turgut und ich den blassen, schwachen Mann vom Boden auf, nahmen ihn zwischen uns und führten ihn vorsichtig durch die Hintertür. Helen folgte uns mit Turguts Jackett. Wir gingen die Gasse hinunter und standen Momente später bereits in der Morgensonne. Als sie auf Mr Erozans Gesicht fiel, zuckte er zusammen, verkroch sich an meiner Schulter und hielt sich eine Hand vor die Augen, als müsste er einen Schlag abwehren.

 
    36
     
     
     
    Die Nacht, die ich in jenem Bauernhaus in Boulois verbrachte, mit Barley auf der anderen Seite des Zimmers, war eine der unruhigsten, die ich je erlebt

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