Der Historiker
einen glücklichen Moment, in dem ich Helen ansehen konnte. Ich weitete meine Augen und richtete sie auf Hugh James, der bei Helens Ankunft freundlich aufgestanden war und stumm neben dem Tisch wartete. Sie runzelte die Stirn, war verwirrt, und da klopfte Professor Sandor zu meiner großen Erleichterung Géza auf die Schulter und führte ihn davon. Ich glaubte, Ärger bei dem jungen Ungarn spüren zu können, dessen breiter Rücken sich von uns entfernte, aber vielleicht hatte ich auch nur Helens Paranoia in Bezug auf Jozsef zu sehr verinnerlicht. Auf jeden Fall hatten wir dadurch eine freie Minute.
›Hugh hat ein Buch gefunden‹, sagte ich und brach schamlos das Vertrauen des Engländers.
Helen sah mich verständnislos an. ›Hugh?‹
Ich nickte schnell in Richtung James, und er sah uns fragend an. Helen fiel das Kinn herunter. Hugh starrte sie seinerseits an. ›Hat sie auch…?‹
›Nein‹, flüsterte ich. ›Sie hilft mir. Das ist Miss Helen Rossi, eine Anthropologin.‹
Hugh schüttelte ihr mit schroffer Herzlichkeit die Hand und starrte sie dabei immer noch an. Aber Professor Sandor war zurückgekommen und wartete auf uns, und wir konnten nichts tun, als ihm zu folgen. Helen und Hugh blieben so nah an meiner Seite, als wären wir eine Gruppe Schafe.
Der Vortragssaal füllte sich bereits, und ich setzte mich in die erste Reihe und holte meine Notizen aus der Aktentasche, ohne dass meine Hand dabei wirklich gezittert hätte. Professor Sandor und sein Assistent fummelten wieder am Mikrofon herum, und mir kam der Gedanke, dass man mich vielleicht gar nicht verstehen würde, was hieße, dass ich mir keine Sorgen zu machen bräuchte. Aber schon funktionierte die Lautsprecheranlage wieder, und der nette Professor stellte mich vor, wobei er seinen weißen Kopf begeistert hin und her tanzen ließ. Noch einmal umriss er meine bemerkenswerten Referenzen, beschrieb das Ansehen, das ich an meiner Universität in den Vereinigten Staaten genoss, und beglückwünschte das Auditorium dazu, in den seltenen Genuss eines Vortrags von mir zu kommen, nur auf Englisch dieses Mal, wahrscheinlich, um es mir einfacher zu machen. Erst jetzt begriff ich, dass ich keinen Übersetzer haben würde, der meine eselohrigen Notizen übertragen würde, während ich sprach, und das stärkte das Selbstvertrauen, mit dem ich meinem Prozess entgegensah, ganz ungemein.
›Einen guten Tag entbiete ich Ihnen, meine Kollegen und Mithistoriker‹, fing ich an, kam mir mit meiner Anrede aber schwülstig vor und legte meine Notizen zur Seite. ›Danke, dass Sie mir die Ehre erweisen, heute vor Ihnen sprechen zu dürfen. Ich würde mich gern mit Ihnen über die Zeit des osmanischen Einfalls in Transsilvanien und die Walachei unterhalten, zwei Fürstentümer, die, wie Sie gut wissen, Teil des heutigen Rumäniens sind.‹ Ein Meer nachdenklicher Gesichter blickte mich eindringlich an, und ich fragte mich, ob da im Raum eine plötzliche Spannung zu spüren war. Transsilvanien war nun mal für ungarische Historiker, wie auch allgemein für viele Ungarn, ein heikles Thema. ›Wie Sie wissen, hielt das Osmanische Reich einige osteuropäische Territorien über mehr als fünfhundert Jahre in Besitz und verwaltete sie nach der Eroberung des alten Konstantinopel 1453 von einer sicheren Basis aus. Die Osmanenherrscher eroberten und besetzten mit Erfolg ein Dutzend Länder, aber es gab einzelne Gebiete, die sie nie endgültig unterwerfen konnten, viele von ihnen waren unzulängliche Bergregionen des Landesinneren, südosteuropäische Landschaften, deren Topografie und Bewohner der Eroberung standhielten. Eines dieser Gebiete war Transsilvanien.‹
In dieser Weise fuhr ich fort, hielt mich zum Teil an meine Notizen, sprach aber auch frei und litt zwischendurch immer wieder unter dem Anflug akademischer Panik. Ich kannte den Stoff noch nicht gut genug, so eindringlich ihn mir Helen auch in mein Denken graviert hatte. Nach der Einleitung gab ich einen kurzen Überblick über die osmanischen Handelsrouten in der Region und stellte die verschiedenen Fürsten und Adligen vor, die versucht hatten, die Land nehmenden Osmanen zurückzuschlagen. Vlad Draculas Namen nannte ich so beiläufig wie möglich, da Helen und ich übereingekommen waren, dass ihn auszulassen jedem Historiker, der um dessen Bedeutung als Vernichter osmanischer Heere wusste, verdächtig erscheinen musste. Es muss mich mehr Anstrengung gekostet haben, als ich dachte, den Namen vor einem fremden
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