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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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(vermutlich) kleiner Wohnungen ein eigenes Esszimmer hatte, die andere, dass sie zu umsichtig war, ob in ihm nun ein Durcheinander herrschte oder nicht, um dort einen fremden Amerikaner zu bewirten. ›Ich muss auch noch eine kleine Besprechung mit meiner Nichte abhalten. Helen könnte heute Abend zu mir kommen, wenn Sie auf sie verzichten würden.‹ Helen übersetzte alles mit pflichtschuldiger Genauigkeit.
    ›Aber natürlich‹, sagte ich und erwiderte Évas Lächeln. ›Ich bin sicher, Sie haben nach all der Zeit eine Menge zu besprechen. Und ich denke, ich habe auch schon etwas vor.‹ Meine Augen suchten in der Menge bereits nach dem Tweedjackett von Hugh James.
    ›Sehr gut.‹ Sie bot mir erneut ihre Hand, und dieses Mal küsste ich sie wie ein echter Ungar. Es war das erste Mal, dass ich einer Frau einen Handkuss gab, und Tante Éva entschwand.
    Nach der kleinen Pause folgten ein Vortrag in französischer Sprache über die Bauernrevolten der frühen Neuzeit in Frankreich und zwei weitere Referate auf Deutsch und Ungarisch. Ich saß wieder hinten neben Helen und genoss meine bloße Zuhörerschaft. Als ein Russe nach seinen Ausführungen über die baltischen Staaten das Podium verließ, versicherte mir Helen mit leiser Stimme, dass wir lange genug da gewesen seien und nun gehen könnten. ›Die Bibliothek hat noch eine Stunde geöffnet. Gehen wir leise hinaus.‹
    ›Nur eine Minute noch‹, sagte ich. ›Ich will nur meine Essensverabredung bestätigen.‹ Hugh James war gleich gefunden, da er auch nach mir Ausschau hielt. Wir verabredeten uns für sieben Uhr in der Eingangshalle der Universitätscafeteria. Helen wollte mit dem Bus zu ihrer Tante fahren, und ich konnte von ihrem Gesicht ablesen, dass sie während der Busfahrt darüber nachgrübeln würde, was uns Hugh James zu erzählen hätte.
    Die Mauern der Universitätsbibliothek leuchteten in einem makellosen Ocker, und ich staunte über die Schnelligkeit, mit der sich die ungarische Nation nach der Katastrophe des Krieges wieder erholte. Selbst die tyrannischste aller Regierungen konnte nicht völlig ruchlos sein, wenn sie in so kurzer Zeit so viel Schönheit für ihre Bürger wiederherzustellen vermochte. Hinter den Anstrengungen steckte wahrscheinlich ebenso viel Nationalismus wie kommunistischer Eifer, spekulierte ich und dachte dabei auch an Tante Évas unverbindlichen Bemerkungen. ›Woran denkst du?‹, fragte Helen mich. Sie hatte ihre Handschuhe wieder angezogen und hielt ihre Handtasche fest unter dem Arm.
    ›Ich denke an deine Tante.‹
    ›Wenn du meine Tante so sehr magst, ist meine Mutter vielleicht nicht nach deinem Geschmack‹, sagte sie mit einem provozierenden Lachen. ›Aber das werden wir morgen sehen. Jetzt lass uns da drin nach etwas suchen.‹
    ›Was denn nur? Tu nicht so geheimnisvoll.‹
    Sie achtete nicht auf mich, und wir betraten die Bibliothek durch die schwere hölzerne Tür mit Schnitzverzierung. Renaissance?‹, flüsterte ich, aber Helen schüttelte den Kopf.
    ›Neunzehntes Jahrhundert. Die Sammlung befand sich bis zum achtzehnten Jahrhundert nicht einmal in Pest, denke ich, sondern in Buda, wie die Universität. Ich erinnere mich, dass mir einer der Bibliothekare einmal erzählt hat, viele von den ältesten Büchern in dieser Sammlung seien der Bibliothek im sechzehnten Jahrhundert von Familien übereignet worden, die vor den osmanischen Invasoren flohen. Du siehst, wir verdanken den Türken einiges. Wer weiß, wo sich all diese Bücher jetzt sonst befänden?‹
    Es war gut, wieder eine Bibliothek zu betreten, es roch wie zu Hause. Wir befanden uns in einer klassizistischen Schatzkammer, überall sah man dunkles Holz mit Schnitzverzierungen, Balkone, Galerien und Fresken. Aber was meinen Blick mehr als alles auf sich zog, waren die endlosen Reihen von Büchern; Hunderttausende von ihnen füllten die Räume, vom Boden bis zur Decke: rote, braune und vergoldete Rücken, knubbelig wie alte Knochen. Ich fragte mich, wo man sie während des Krieges wohl versteckt hatte, und wie lange es gedauert haben mochte, sie zurück in die wiedererrichteten Regale zu stellen.
    Ein paar Studenten, die an langen Tischen saßen, blätterten noch in ihren Büchern, und ein Mann hinter einem großen Tisch sortierte verschiedene Stapel. Helen ging zu ihm und sprach mit ihm. Er nickte und winkte uns in einen großen Lesesaal, den ich bereits durch eine offene Tür gesehen hatte. Dort suchte er einen schweren Folianten für uns heraus,

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