Der Historiker
legte ihn auf einen Tisch und ließ uns allein. Helen setzte sich und zog die Handschuhe aus. ›Ja‹, sagte sie mit sanfter Stimme. ›Ich glaube, das ist es, woran ich mich erinnere. Diesen Band habe ich noch durchgesehen, kurz bevor ich Budapest im letzten Jahr verließ, aber da habe ich ihm noch keine so große Bedeutung beigemessen.‹ Sie öffnete das Buch, und ich sah, dass es in einer Sprache verfasst war, die ich nicht verstand. Die Worte schienen mir zwar seltsam vertraut, ich konnte aber kein einziges von ihnen lesen.
›Was heißt das?‹, fragte ich und deutete auf das, was ich für den Titel hielt. Die Seite war aus feinem, schwerem Papier, gedruckt mit brauner Farbe.
›Das ist Rumänisch‹, erklärte Helen mir.
›Kannst du es lesen?‹
›Sicher.‹ Sie legte ihre Hand dicht neben meiner auf die Seite. Ich sah, dass unsere Hände fast gleich groß waren, auch wenn ihre zierlichere Knochen und schmale, eckig auslaufende Fingerspitzen hatte. ›Hier‹, sagte sie. ›Kannst du Französisch?‹
›Ja‹, gab ich zu, aber dann sah ich, was sie meinte, und fing an, den Titel zu entziffern: Balladen aus den Karpaten, 1790.
›Gut‹, sagte sie. ›Sehr gut.‹
›Ich dachte, du könntest kein Rumänisch‹, sagte ich.
›Sprechen kann ich es nicht sehr gut, aber ich kann es lesen, mehr oder weniger. In der Schule habe ich zehn Jahre Latein gelernt, und meine Tante hat mich mit ziemlicher Ausdauer Rumänisch schreiben und lesen gelehrt. Gegen den Wunsch meiner Mutter, natürlich. Meine Mutter ist sehr stur. Sie spricht nie von Transsilvanien, aber sie hat es in ihrem Herzen auch nie ganz hinter sich gelassen.‹
›Und was ist mit diesem Buch?‹
Vorsichtig blätterte sie die erste Seite um. Ich sah eine lange Spalte Text, von dem ich auf den ersten Blick nichts verstand. Zu der Fremdheit der Worte kam, dass viele der lateinischen Buchstaben mit Kreuzen, Schweifen, Zirkumflexen und anderen Symbolen geschmückt waren. Für mich sah das eher wie Hexenwerk als wie eine romanische Sprache aus. ›Ich fand dieses Buch bei meinen letzten Recherchen, bevor ich nach England aufbrach. Es gibt in dieser Bibliothek nicht sehr viel Material über Dracula, sieht man von ein paar allgemeinen Hinweisen auf Vampire ab, weil Mâtyâs Corvinus, unser bibliophiler König, Interesse an ihnen hatte.‹
›Das sagt auch Hugh‹, murmelte ich.
›Was?‹
›Das erkläre ich dir später. Fahr fort.‹
›Nun, ich habe wirklich unter jeden Stein hier gesehen und mich durch eine riesige Menge Material zur Geschichte der Walachei und Transsilvaniens gefressen. Es kostete mich einige Monate. Ich habe selbst das gelesen, was es auf Rumänisch gab. Natürlich sind viele Urkunden und Geschichten zu Transsilvanien auf Ungarisch, wegen Ungarns jahrhundertelanger Vorherrschaft, aber es gibt auch Quellen auf Rumänisch. Das hier ist eine Sammlung von Volksliedertexten aus Transsilvanien und der Walachei, die ein anonymer Sammler herausgebracht hat. Einige davon sind weit mehr als nur Volkslieder – es sind wahre Versepen.‹
Ich fühlte mich leicht enttäuscht. Ich hatte irgendein seltenes historisches Dokument erwartet, etwas über Dracula. ›Kommt in einem davon unser Freund vor?‹
›Nein, ich fürchte nicht. Aber es gibt ein Lied, das mir im Kopf geblieben ist, und als du mir sagtest, was uns Selim Aksoy im Archiv in Istanbul zeigen wollte – du weißt schon, die Passage über die Mönche aus den Karpaten, die mit ihren Mauleselskarren nach Istanbul kamen, du erinnerst dich doch? Ich wünschte, wir hätten Turgut Bora gebeten, uns die Übersetzung aufzuschreiben.‹ Sie begann äußerst vorsichtig, in dem Folianten zu blättern. Einige der längeren Texte wurden von Holzschnitten eingeleitet, meist Ornamenten, die wie volkstümliche Stickereien aussahen, aber auch ein paar Darstellungen von Bäumen, Häusern und Tieren. Die Schrift war sauber gedruckt, dennoch hatte das Buch einen groben, hausgemachten Charakter. Helen ließ den Finger über die ersten Zeilen der Gedichte gleiten, bewegte die Lippen dabei langsam und schüttelte den Kopf. ›Einige davon sind so traurig‹, sagte sie. ›Wir Rumänen sind nicht so wie die Ungarn, was das Herz angeht.‹
›Wie kommt das?‹
›Nun, es gibt ein ungarisches Sprichwort, das lautet: Der Magyar genießt sein Vergnügen mit Trauer. Und es stimmt, Ungarn ist voller trauriger Lieder, die Dörfer sind voller Gewalt, Alkoholismus, Selbstmorde. Aber die Rumänen sind noch
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