Der Historiker
trauriger, wirklich noch trauriger. Das Leben hat uns nicht traurig gemacht, es ist unsere Natur, denke ich.‹ Sie beugte den Kopf über das alte Buch, die Wimpern lagen ihr schwer auf den Wangen. ›Hör zu, das Lied hier ist typisch.‹ Stockend übersetzte sie, und das Ergebnis lautete in etwa wie das Folgende, obwohl das Lied, das ich hier einfüge, ein anderes ist und aus einem kleinen Band mit Übersetzungen aus dem neunzehnten Jahrhundert stammt, das ich heute in meiner Bibliothek habe:
Das tote Kind war immer lieb und froh,
Jetzt lächelt die jüngere Schwester so.
Sie sagt zur Mutter: Oh, liebe Mutter mein,
Ohne Furcht, sagte die Schwester, solle ich sein.
Ihr Leben zu leben, das sei nun meine Sache,
Damit ich Sie, liebe Mutter, wieder glücklich mache!
Doch die Mutter hob den Kopf nicht mehr,
Sie weinte um die Tote so sehr.
›Großer Gott‹, sagte ich mit einem Schaudern. ›Kein Wunder, dass eine Kultur, die solche Lieder hervorbringt, auch an Vampire glaubt – sie sogar produziert.‹
›Ja‹, sagte Helen kopfschüttelnd, suchte aber bereits weiter in dem Band herum. ›Halt.‹ Sie hielt plötzlich inne. ›Das könnte es sein.‹ Sie deutete auf die kurze Strophe über einem aufwändigen Holzschnitt, der Häuser und Tiere in einem stacheligen Wald darzustellen schien.
Lange Minuten saß ich gespannt da, während Helen sich schweigend durch den Text arbeitete. Endlich sah sie auf. Erregung blitzte in ihrem Gesicht auf, und ihre Augen leuchteten. ›Hör zu, ich übersetze, so gut ich kann.‹ Und du kannst hier die genaue Übersetzung lesen, die ich über zwanzig Jahre in meinen Unterlagen aufbewahrt habe:
Sie kamen ans Tor, das Tor der Großen Stadt,
Kamen aus dem Land, das den Tod gesehen hat.
Wir sind Männer Gottes aus den Karpaten,
Mönche und Heilige, mit Kunde von bösen Taten.
Dort wütete die Seuche, Ihr in der Großen Stadt.
Wir beweinen den Meister, wissen keinen Rat.
Ans Tor kamen sie, und die Stadt weinte mit,
Als sie in ihre Straßen fuhren.
Wieder ergriff mich ein Schauder, aber ich hatte einen Einwand. ›Das ist doch sehr allgemein. Die Karpaten kommen in Dutzenden oder gar Hunderten alten Texten vor. Und die Große Stadt könnte alles Mögliche bedeuten, vielleicht Stadt Gottes oder das himmlische Königreich.‹
Helen schüttelte bedächtig den Kopf. ›Das glaube ich nicht‹, sagte sie. ›Für die Menschen auf dem Balkan und in Mitteleuropa, für Christen wie Moslems, war die Große Stadt immer Konstantinopel, sofern du nicht diejenigen mitrechnest, die über die Jahrhunderte nach Jerusalem oder Mekka gepilgert sind. Und dann die Seuche und die Mönche – für mich scheint es da eine Verbindung zu der Geschichte in Selim Aksoys Text zu geben. Könnte der Meister, den sie nennen, nicht Vlad Tepes selbst sein?‹
›Ich nehme es an‹, sagte ich zweifelnd, ›aber ich wünschte, wir hielten mehr in der Hand. Wie alt, sagst du, ist dieses Lied?‹
›Das lässt sich bei Volksliedern nur sehr schwer bestimmen.‹ Helen sah nachdenklich aus. ›Dieser Band hier wurde 1790 gedruckt, wie du sehen kannst, aber es ist kein Verlag und kein Ort angegeben. Volkslieder können leicht zwei- oder dreihundert Jahre überleben, der Text könnte also Jahrhunderte älter sein als dieses Buch. Das Lied könnte aus dem späten fünfzehnten Jahrhundert stammen, oder sogar noch älter sein, was unsere Annahmen widerlegen würde.‹
›Der Holzschnitt ist merkwürdig‹, sagte ich und betrachtete ihn genauer.
›Das Buch ist voll davon‹, murmelte Helen. ›Ich erinnere mich, wie sehr sie mich fasziniert haben, als ich das Buch zum ersten Mal in der Hand hatte. Dieser hier scheint nichts mit dem Lied zu tun zu haben. Man hätte annehmen sollen, dass sie einen betenden Mönch oder eine Stadt mit hohen Mauern dazusetzen würden, etwas in der Art.‹
›Ja‹, sagte ich langsam, ›aber sieh dir das einmal aus der Nähe an.‹ Wir beugten uns über die kleine Illustration, dass wir fast mit unseren Köpfen zusammenstießen. ›Ich wünschte, ich hätte ein Vergrößerungsglas‹, sagte ich. ›Sieht es nicht aus, als wären in diesem Wald, diesem Dickicht, was immer es sein mag, Dinge versteckt? Es gibt keine Große Stadt, aber wenn du genau hinsiehst, ist da ein Gebäude wie eine Kirche mit einem Kreuz auf der Kuppel und daneben…‹
›Ein kleines Tier.‹ Sie zog die Augen zusammen. Dann: ›Mein Gott. Es ist ein Drache.‹
Ich nickte, und wir hingen
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