Der Historiker
mitnehmen dürfen. Meine Lebensgeister verließen mich allmählich. Es war ein langer Tag gewesen, die Uhr in der Halle zeigte schon fast elf Uhr.
Mein Mut wäre noch weiter gesunken, wäre nicht in diesem Moment ein Taxi vorgefahren, aus dem Helen stieg. Sie bezahlte den Fahrer und kam herein. Sie sah mich nicht gleich, und ihr Gesicht wirkte ernst und verschlossen, voll jener melancholischen Intensität, die ich verschiedentlich bei ihr beobachtet hatte. Um ihre Schultern lag ein Schal aus flauschig schwarzer und roter Wolle, den ich noch nicht an ihr kannte, vielleicht ein Geschenk ihrer Tante. Er dämpfte die strengen Linien ihres Kostüms und ihrer Schultern und ließ ihre Haut selbst im schlechten Licht der Hotelhalle weiß leuchten. Sie sah aus wie eine Prinzessin, und ich starrte sie an, bis sie auch mich entdeckte. Es war nicht nur ihre Schönheit, die mich so faszinierte. Wieder musste ich an das unangenehme Erschauern beim Anblick des Porträts in Turgut Boras Arbeitszimmer denken: den stolzen Kopf, die lange gerade Nase und die großen dunklen Augen mit den schweren Lidern. Vielleicht war ich nur einfach sehr müde, sagte ich mir, und als Helen mich mit einem Lächeln ansah, verschwand das dämonische Bild aus meinen Gedanken.
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Hätte ich Barley nicht wachgerüttelt oder wäre er allein gewesen, wäre er schlummernd über die Grenze nach Spanien hineingefahren, um dort dann grob vom spanischen Zoll aufgeweckt zu werden. So stolperte er verschlafen auf den Bahnsteig von Perpignan, und es war an mir, nach dem Busbahnhof zu fragen. Der Schaffner in seiner blauen Jacke zog die Brauen zusammen, als dächte er, wir sollten um diese Zeit längst im Bett sein. Wo wollten wir denn hin? Ich sagte, wir wollten nach Les Bains, und er schüttelte den Kopf. Da müssten wir bis zum nächsten Morgen warten. Wisse ich denn nicht, dass es fast Mitternacht sei? Ein Stück die Straße hinunter gebe es ein sauberes Hotel, wo ich und mein – »Bruder«, sagte ich schnell – ein Zimmer finden könnten. Der Mann musterte uns von oben bis unten: Meine dunklen Haare, mein junges Alter und der schlaksige blonde Barley, das gab ihm zu denken, dachte ich, aber dann schnalzte er nur mit der Zunge und ging davon.
»Der nächste Morgen dämmerte noch lichter und schöner als der tags zuvor, und als ich Helen unten zum Frühstück traf, kamen mir meine düsteren Ahnungen der vorausgegangenen Nacht bereits wie ein entfernter Traum vor. Die Sonne schien durch die staubigen Fenster auf die weißen Tischdecken und schweren Kaffeetassen. Helen machte ein paar Notizen auf einem kleinen Block, der vor ihr auf dem Tisch lag. ›Guten Morgen‹, sagte sie freundlich, als ich mich zu ihr setzte und mir Kaffee einschenkte. ›Bist du bereit für das Treffen mit meiner Mutter?‹
›Ich denke an nichts anderes, seit wir in Budapest sind‹, gestand ich ihr. ›Wie kommen wir zu ihr hin?‹
›Mit dem Bus. Ihr Dorf liegt im Norden von Budapest. Sonntagmorgens fährt der Bus nur einmal, deshalb müssen wir sehen, dass wir ihn nicht verpassen. Die Fahrt dauert etwa eine Stunde, und es geht durch ziemlich langweilige Vororte.‹
Ich bezweifelte, dass mich etwas auf diesem Ausflug würde langweilen können, aber ich hielt den Mund. Eines musste ich jedoch noch loswerden. ›Helen, bist du sicher, dass du mich dabeihaben willst? Du könntest mit ihr allein sprechen. Vielleicht wäre das weniger peinlich für sie, als wenn du mit einem völlig Fremden kommst, einem Amerikaner obendrein. Und was, wenn sie mein Besuch in Schwierigkeiten bringt?‹
›Gerade wenn du mitkommst, wird es leichter für sie sein zu Sprechen‹, sagte Helen. ›Mir gegenüber ist sie sehr reserviert. Du wirst sie charmant aus sich herauslocken.‹
›Nun, dass ich sonderlich charmant wäre, hat mir bis heute noch niemand vorgeworfen.‹ Ich nahm mir drei Scheiben Brot und ein Tellerchen mit Butter.
›Keine Angst, da musst du dir auch nichts vorwerfen.‹ Helen grinste mich an, und ich konnte einen Schimmer Zuneigung in ihren Augen entdecken. ›Aber meine Mutter lässt sich ziemlich leicht bezirzen.‹ Wenigstens sagte sie nicht: Rossi konnte es, warum nicht du? Ich beließ es dabei.
›Ich hoffe, du hast uns angekündigt.‹ Ich sah sie über den Tisch hinweg an und fragte mich, ob sie ihrer Mutter vom Angriff des Bibliothekars auf sie erzählen würde. Das kleine Tuch war fest um ihren Hals gebunden, und ich bemühte mich sehr, nicht zu oft
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