Der Historiker
Archäologe ein kleines Boot und konnte uns zum Festland rudern. Den Besitzer des Restaurants würde er bitten, im Ort ein Quartier für uns zu finden. Georgescu packte sein Werkzeug weg, entließ seine Helfer, und wir kamen gerade rechtzeitig, um den Abt und seine drei Mönche in ihren schwarzen Habit hintereinander durch die Tür des Altarraums in die Kirche einziehen zu sehen. Es waren alles alte Männer, aber einer hatte noch einen braunen Bart und ging kraftvoll aufgerichtet. Langsam beschrieben die Mönche einen Kreis und traten vor die Bilderwand, der Abt mit einem Kreuz und einer Kugel wie ein Globus in der Hand. Auf seinen gebeugten Schultern lag ein purpurgoldener Umhang, der das Licht der Kerzen einfing.
Sie verbeugten sich und streckten sich einen Moment lang der Länge nach auf dem Boden aus, genau über dem leeren Grab, wie ich bemerkte. Für einen Augenblick hatte ich das furchtbare Gefühl, dass sie sich nicht vor dem Allerheiligsten verbeugten, sondern vor dem Grab des Pfählers.
Plötzlich erscholl ein unheimliches Geräusch. Es klang, als ob die Kirche selbst es produzierte. Nebelgleich schien es aus den Wänden zu dringen. Sie sangen. Der Abt trat durch die kleine Tür der Bilderwand, kam mit einem großen Buch mit emailliertem Einband zurück, bewegte segnend die Hand darüber und legte es auf das Pult vor der Wand. Einer der Mönche reichte ihm ein Weihrauchfass, das der Abt über dem Buch schwenkte. Aromatischer Rauch breitete sich aus. Überall um uns herum erhob sich der dissonante heilige Gesang mit brummendem Bass und bebenden Höhen. Gänsehaut überzog meinen Körper, und mir wurde klar, dass ich mich hier näher am byzantinischen Herzen befand als je zuvor in Istanbul. Die alte Musik und der Kultus, der sie begleitete, hatten sich sicher nur wenig verändert, seit der Herrscher in Konstantinopel der Messe beigewohnt hatte.
»Der Gottesdienst ist sehr lang«, flüsterte mir Georgescu zu. »Sie haben nichts dagegen, wenn wir uns leise davonmachen?« Er nahm eine dünne kurze Kerze aus der Tasche, entzündete sie an einer der brennenden langen Kerzen auf dem Ständer und steckte sie in den Sand.
Im Restaurant am Ufer, einem kleinen, etwas schmuddeligen Lokal, aßen wir einen deftigen Eintopf und Salat, den uns ein schüchternes Mädchen in Tracht brachte. Dazu gab es ein ganzes Hähnchen und eine Flasche schweren Rotwein, den Georgescu freigebig einschenkte. Mein Fahrer hatte offenbar in der Küche bereits Freunde gefunden, so dass wir im holzvertäfelten Gastraum völlig allein waren. Der Blick hinaus auf den lang gestreckten See und die kleine Insel verblich langsam im Dämmerlicht.
Als wir den schlimmsten Hunger gestillt hatten, fragte ich den Archäologen, woher er so gut Englisch könne. Er lachte laut und mit vollem Mund. »Das verdanke ich meiner Mutter und meinem Vater. Gott sei ihren Seelen gnädig«, sagte er. »Er war ein schottischer Archäologe, ein Mediävist, und sie eine schottische Zigeunerin. Ich wuchs in einer Scheune in Fort William auf und half ihm hei seiner Arbeit, bis er starb. Nach seinem Tod schlugen Verwandte meiner Mutter vor, mit ihnen nach Rumänien zu gehen, wo sie herstammten. Sie selbst war in einem Dorf im Westen Schottlands geboren und aufgewachsen, aber als mein Vater nicht mehr war, wollte sie nur noch weg von dort. Die Familie meines Vaters hatte sie nicht gerade gut behandelt, wissen Sie. Also sind wir hierher gekommen, ich war gerade fünfzehn, und seitdem lebe ich hier. Ich habe ihren Familiennamen angenommen, um ein bisschen besser herzupassen.«
Ich wusste darauf nicht gleich etwas zu sagen, und er grinste. »Ist eine komische Geschichte, ich weiß. Und Ihre?«
Ich erzählte ihm kurz von meinem Leben und dem Studium, und auch von dem geheimnisvollen Buch und wie es in meinen Besitz gekommen ist. Mit zusammengezogenen Brauen hörte er mir zu, und als ich fertig war, nickte er langsam. »Eine merkwürdige Geschichte, da gibt es keinen Zweifel.«
Ich holte das Buch aus meiner Tasche und gab es ihm. Vorsichtig blätterte er es durch und verweilte lange Minuten bei dem Holzschnitt in der Mitte. »Ja«, sagte er nachdenklich. »Das gleicht vielen anderen Bildern, die mit dem Orden in Verbindung gebracht werden. Ich habe einen ähnlichen Drachen auf einzelnen Schmuckstücken gesehen, auf dem kleinen Ring zum Beispiel. Aber solch ein Buch habe ich noch nie gesehen. Und Sie haben keine Idee, woher es stammen könnte?«
»Überhaupt keine«, gab ich
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