Der Historiker
Vaters ab, und ich kann mich nur wieder den zurückhaltenderen Briefen zuwenden, die er mir geschrieben hat.
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Turgut Bora und Selim Aksoy erwarteten uns am Flughafen in Istanbul.
›Paul!‹ Turgut umarmte und küsste mich und klopfte mir auf die Schultern. ›Madam Professor!‹ Mit der Linken und Rechten gleichzeitig schüttelte er Helens Hand. ›Gott sei Dank sind Sie heil und gesund. Ein Willkommen den triumphierenden Rückkehrern!‹
›Nun, triumphierend würde ich uns nicht gerade nennen‹, sagte ich und musste lachen.
›Wir werden reden, wir werden reden!‹, rief Turgut und schlug mir noch einmal kräftig auf den Rücken. Selim Aksoy ließ dem Ganzen eine ruhigere Begrüßung folgen. Kaum eine Stunde später befanden wir uns bereits vor der Tür zu Turguts Wohnung, wo sich Mrs Bora ganz offensichtlich über unser Erscheinen freute. Helen und mir entfuhr ein lauter Ausruf der Bewunderung, als wir sie sahen: An diesem Tag war sie in ein sehr helles Blau gekleidet, wie eine kleine Frühlingsblume. Sie sah uns fragend an. ›Uns gefällt Ihr Kleid‹, rief Helen, und sie ergriff Mrs Boras kleine Hand.
Mrs Bora lachte. ›Danke‹, sagte sie. ›Ich nähe alle meine Kleider selber.‹ Dann servierten sie und Selim Aksoy uns Kaffee und börek, jene türkische Blätterteigrolle gefüllt mit salzigem Käse, und anschließend noch ein Essen mit fünf oder sechs weiteren Gängen.
›Nun, meine Freunde, erzählen Sie uns, was Sie herausgefunden haben.‹
Das war eine weit gefasste Frage, aber gemeinsam berichteten wir von unseren Erfahrungen auf der Tagung in Budapest, meinem Treffen mit Hugh James und der Geschichte von Helens Mutter und Rossis Briefen. Turgut riss die Augen weit auf, als ich beschrieb, wie Hugh James sein Drachenbuch gefunden hatte. Während wir das alles erzählten, hatte ich tatsächlich das Gefühl, dass wir eine Menge in Erfahrung gebracht hatten. Unglücklicherweise jedoch enthielt nichts davon einen Hinweis auf Rossis Aufenthaltsort.
Turgut erzählte uns seinerseits, dass sie hier in Istanbul während unserer Abwesenheit große Probleme gehabt hätten. Vor zwei Nächten sei sein so gutherziger Freund, der Archivar, ein weiteres Mal angegriffen worden, und zwar in der Wohnung, in der er sich jetzt erhole. Der Mann, den sie mit seinem Schutz beauftragt hätten, sei eingeschlafen und habe nichts gesehen. Mittlerweile hatten sie einen neuen Wächter, von dem sie hofften, dass er aufmerksamer sein würde. Sie hatten sämtliche Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, aber dem armen Mr Erozan ging es gar nicht gut.
Und sie hatten noch andere Neuigkeiten. Turgut schüttete den Rest seiner zweiten Tasse Kaffee hinunter und ging in sein gruseliges Arbeitszimmer hinüber, um etwas zu holen. (Ich war erleichtert, nicht mit ihm gehen zu müssen.) Er kam mit einem Notizbuch zurück und setzte sich wieder neben Selim Aksoy. Die beiden sahen uns ernst an. ›Ich habe Ihnen am Telefon berichtet, dass wir in Ihrer Abwesenheit einen Brief gefunden haben‹, sagte Turgut. ›Der Originalbrief ist in altkirchenslawischer Sprache geschrieben, der Sprache, die in den christlichen slawischen Kirchen gesprochen wurde. Wie ich Ihnen schon sagte, er stammt aus der Feder eines Mönchs aus den Karpaten und betrifft seine Reisen nach Istanbul. Mein Freund Selim war erstaunt, dass er nicht auf Latein geschrieben ist, aber vielleicht war dieser Mönch ein Slawe. Soll ich ihn Ihnen gleich vorlesen?‹
›Natürlich‹, sagte ich, aber Helen hob die Hand.
›Nur eine Minute, bitte. Wie und wo haben Sie den Brief gefunden?‹
Turgut nickte zustimmend. ›Mr Aksoy hat ihn im Archiv gefunden – dem, in dem wir zusammen waren. Er hat drei Tage damit verbracht, sämtliche Handschriften durchzusehen, die es dort aus dem fünfzehnten Jahrhundert gibt. Den Brief hat er in einer kleinen Sammlung von Schriftstücken aus den ungläubigen Kirchen gefunden, womit die christlichen Kirchen in Istanbul gemeint sind, die unter der Herrschaft des osmanischen Eroberers und seiner Nachfolger geöffnet bleiben durften. Es gibt nicht viele davon in dem Archiv, da sie üblicherweise von den Klöstern bewahrt wurden, vor allem vom Patriarchat von Konstantinopel. Einiges ist jedoch dem Sultan in die Hände gefallen, vor allem wenn es mit neuen Abmachungen zwischen Kirchen und Reich zu tun hatte. Solch eine Abmachung nannte man einen firman. Manchmal erhielt der Sultan auch Briefe, die – wie nennen Sie das? – Petitionen
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