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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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auf seinen Arm und klopfte versichernd darauf. ›Nein, seht mal… Die Seuche!‹ Er wandte sich an Selim, und sie wechselten ein paar Schnellfeuersalven auf Türkisch.
    ›Was?‹ Helens Augen wurden vor Konzentration ganz schmal. ›Die Seuche im Lied?‹
    ›Ja, meine Liebe.‹ Turgut strich sich dass Haar zurück. ›Neben dem, was im Brief steht, haben wir noch etwas über Istanbul in genau dieser Zeit herausgefunden – etwas, was mein Freund Aksoy allerdings schon wusste. Im Spätsommer 1477, beim heißesten Wetter, kam es zu etwas, das unsere Historiker eine kleine Pest nennen. Im alten Pera-Viertel, dem heutigen Galata, kostete es viele Menschenleben. Die Herzen der Leichname wurden mit Pflöcken durchstoßen, bevor man sie verbrannte. Das ist recht ungewöhnlich, sagt Aksoy, weil die Leichen der Unglücklichen normalerweise einfach vor den Toren der Stadt verbrannt wurden, um weitere Ansteckungen zu vermeiden. Aber es war eine nur kurz wütende Seuche, und die Zahl der Opfer blieb begrenzt.‹
    ›Sie denken, diese Mönche, wenn es denn dieselben waren, brachten die Seuche in die Stadt?‹
    ›Das wissen wir natürlich nicht, aber wenn in Ihrem Lied von denselben Mönchen die Rede ist…‹
    ›Ich habe über etwas nachgedacht‹, sagte Helen und stellte ihre Tasse ab. ›Ich weiß nicht mehr, ob ich es dir schon gesagt habe, Paul, aber Vlad Dracula war einer der ersten Militärstrategen der Geschichte, der im Krieg – wie sagt man? – Krankheiten als Waffe einsetzte.‹
    ›Biologische Kriegsführung‹, sagte ich. ›Hugh James hat mir davon erzählt.‹
    ›Ja.‹ Sie schlug ein Bein unter. ›Als der Sultan in die Walachei einmarschierte, schickte Dracula mit der Pest oder Pocken Infizierte als Türken verkleidet in die osmanischen Feldlager, damit sie so viele Soldaten wie möglich ansteckten, bevor sie selbst starben.‹
    Wäre das alles nicht so grausam gewesen, hätte ich gelächelt. Der Fürst der Walachei war so kreativ wie zerstörerisch, ein extrem schlauer Feind. Eine Sekunde später begriff ich, dass ich gerade über Dracula in der Gegenwart nachgedacht hatte.
    ›Ich verstehe.‹ Turgut nickte. ›Sie meinen, dass diese Gruppe Mönche, wenn es denn tatsächlich dieselben Mönche waren, die Seuche aus der Walachei einschleppten.‹
    ›Das würde jedoch eines nicht erklären.‹ Helen furchte die Stirn. ›Wenn einige von ihnen infiziert waren, warum ließ sie der Abt von Sankt Irene dann bei sich wohnen?‹
    ›Madam, das ist wahr‹, gab Turgut zu. ›Wenn es allerdings keine herkömmliche Seuche wie Pest oder Pocken war, sondern eine andere Art von Verseuchung… Aber das lässt sich nicht herausfinden.‹ Enttäuscht saßen wir da und grübelten über all das nach.
    ›Viele orthodoxe Mönche kamen auf ihren Pilgerfahrten durch Konstantinopel, auch nach der Eroberung‹, sagte Helen schließlich. ›Vielleicht waren es nur einfache Pilger.‹
    ›Aber sie suchten nach etwas, das sie offenbar auf ihrer Reise nicht fanden, wenigstens nicht in Konstantinopel‹, sagte ich. ›Und Bruder Kyrill schreibt, sie würden als Pilger verkleidet nach Bulgarien ziehen, als wären sie nicht tatsächlich welche – wenigstens scheint er das zu sagen.‹
    Turgut kratzte sich am Kopf. ›Mr Aksoy hat darüber nachgedacht‹, sagte er, ›und mir erklärt, dass die meisten wichtigen Schätze und Reliquien in den christlichen Kirchen Konstantinopels während der Eroberung zerstört oder geraubt wurden: Ikonen, Kreuze, die Gebeine von Heiligen. Natürlich gab es hier 1453 nicht so viele Schätze wie zu der Zeit, als Byzanz noch in Blüte stand, denn die schönsten alten Dinge wurden von den Teilnehmern des Kreuzzugs 1204 – davon wissen Sie zweifellos – geraubt und nach Rom und Venedig und in andere Städte im Westen verschleppt.‹ Turgut breitete missbilligend die Arme aus. ›Mein Vater hat mir von den wundervollen Pferden auf San Marco in Venedig erzählt, die die lateinischen Kreuzfahrer aus Byzanz gestohlen haben. Die christlichen Eroberer waren ebenso schlimm wie die osmanischen, verstehen Sie? Aber abgesehen davon, meine Freunde… Während der Eroberung von 1453 waren einige der Kirchenschätze versteckt gewesen und etliche noch vor Sultan Mehmeds Belagerung aus der Stadt geschafft und in den Klöstern draußen verborgen oder gar in andere Länder transportiert worden. Wenn unsere Mönche Pilger waren, kamen sie vielleicht in der Hoffnung in die Stadt, dort ein heiliges Objekt vorzufinden, das

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