Der Historiker
und so ist dieses Dokument umso wichtiger für mich. Und weil dies hier kein Kinderbuch ist und ich möchte, dass es ein so vollständiger Bericht wie möglich ist, habe ich den Brief trotz meiner Skrupel mit aufgenommen. Es ist gut möglich, dass er noch andere Briefe dieser Art geschrieben hat, aber es wäre typisch für ihn gewesen, sie zu vernichten – sie vielleicht sogar in dem winzigen Garten hinter unserem Haus in Amsterdam zu verbrennen, wo ich als junges Mädchen manchmal in dem kleinen steinernen Grill verkohlte und nicht mehr lesbare Papierfetzen fand. Vielleicht ist dieser eine Brief nur aus Zufall erhalten geblieben. Er ist undatiert, so dass ich gezögert habe, wo in dieser Chronologie ich ihn einfügen soll. Ich will ihn hier platzieren, da er sich auf die frühesten Tage ihrer Liebe bezieht, obwohl klar ersichtlich ist, dass er ihn schrieb, als er ihn ihr schon nicht mehr schicken konnte.
Oh, meine Liebe, lass mich dir sagen, wie sehr ich an dich denke. Mein ganzes Sehnen gehört dir, denn es wendet sich ständig jenen Tagen unseres ersten gemeinsamen Alleinseins zu. Oft schon habe ich mich gefragt, warum andere Gefühle niemals deine Gegenwart ersetzen können, und immer wieder erliege ich der Illusion, dass wir immer noch zusammen sind, und dann wird mir, unwillentlich, bewusst, dass du meine Erinnerung zu deiner Geisel gemacht hast. Wenn ich es am wenigsten erwarte, überwältigen mich plötzlich wieder deine Worte: Ich höre sie und spüre das Gewicht deiner Hand auf meiner – unser beider Hände sind unter dem Rand meines Jacketts versteckt, das aufgefaltet zwischen uns auf dem Sitz liegt; die wundervolle Leichtigkeit deiner Finger, dein Profil, dein Ausruf, als wir zusammen nach Bulgarien hineinkommen – als wir zum ersten Mal über die bulgarischen Berge fliegen.
Seit damals, mein Liebes, hat eine sexuelle Revolution stattgefunden, eine wahre Orgie von mythischen Proportionen, die du nicht mehr erlebt hast. Heute kommen zumindest in der westlichen Welt junge Leute ohne irgendwelche Präliminarien zusammen. Aber ich erinnere mich an unsere Zurückhaltung mit fast derselben Sehnsucht wie an die erst viel spätere Erfüllung unserer Wünsche. Es ist eine Erinnerung, die ich mit sonst niemandem teilen kann: die Vertrautheit, die wir mit der Kleidung des anderen besaßen, in einer Situation, da wir alle Erfüllung hinausschieben mussten. Die Art, wie das Ablegen eines Kleidungsstücks zur brennenden Frage zwischen uns wurde, so dass ich mich mit schmerzender Klarheit – wenn ich es am wenigsten möchte – an deinen zarten Halsansatz erinnere, an den zierlichen Kragen deiner Bluse, jener Bluse, deren Form ich bis in jede Einzelheit kannte, bevor meine Hände auch nur einmal ihr Material und ihre Perlenknöpfe berührt hatten. Ich erinnere mich an den Geruch von Zugreisen und grober Seife, an deine Schultern in der schwarzen Kostümjacke, an das leicht Kratzige deines schwarzen Strohhuts ebenso gut wie an die Weichheit deines Haars, das genau die gleiche Schattierung hatte. Als wir uns eine halbe Stunde zusammen in meinem Hotelzimmer in Sofia erlaubten, bevor wir zu einem weiteren betrüblichen Essen gingen, hatte ich das Gefühl, dass mich meine Sehnsucht umbringen würde. Als du deine Jacke über den Stuhl hängtest und deine Bluse darauf legtest, langsam und bestimmt, als du mir dein Gesicht zuwandtest und deine Augen nicht für eine Sekunde von meinen ließen, war ich wie von Feuer gelahmt. Als du dir meine Hände auf die Taille legtest und sie sich zwischen der rauen Oberfläche deines Rocks und der feineren deiner Haut entscheiden mussten, da hätte ich weinen können.
Vielleicht war das auch der Augenblick, in dem ich deinen einzigen Makel entdeckte, womöglich die einzige Stelle, die ich nie geküsst habe: den winzigen gewundenen Drachen auf deinem Schulterblatt. Meine Hände müssen darüber gestrichen sein, bevor ich ihn sah. Ich erinnere mich, wie ich die Luft anhielt – genau wie du –, als ich ihn fand und mit einem widerstrebend neugierigen Finger darüber strich. Mit der Zeit wurde er Teil der Geografie deines seidenweichen Rückens, aber im ersten Moment flößte er meinem Verlangen Furcht ein. Ob das nun in unserem Hotel in Sofia geschah oder nicht, es muss um die Zeit gewesen sein, als ich mir auch den feinst gezackten Rand deiner unteren Zähne einprägte, die Haut um deine Augen, die erste Hinweise auf ein Älterwerden zeigte –
Hier brechen die Gedanken meines
Weitere Kostenlose Bücher