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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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drängte mich zu dem Polizisten vor.
    »Wo ist Professor Rossi? Was ist mit ihm passiert?«
    »Kennen Sie ihn?«, fragte der Polizist und sah von seinem Notizbuch auf.
    »Ich bin Doktorand bei ihm. Ich war vorgestern Abend noch bei ihm. Wer sagt, dass er verschwunden ist?«
    Der Dekan trat zu uns und schüttelte mir die Hand. »Wissen Sie etwas Genaueres? Seine Haushälterin rief gegen Mittag an und sagte, dass er in der letzten und vorletzten Nacht nicht nach Hause gekommen sei – er sei weder zum Abendessen noch zum Frühstück erschienen. Sie sagt, das sei noch nie vorgekommen. Heute Nachmittag fehlte er in der Fakultätsversammlung, ohne vorher angerufen zu haben. Auch das hat er noch nie getan. Ein Student sagte, sein Büro sei verschlossen gewesen, obwohl er einen Termin bei ihm gehabt habe, und seine Vorlesung hat er auch nicht gehalten. Also habe ich die Tür öffnen lassen.«
    »War er drinnen?« Ich versuchte, nicht nach Luft zu schnappen.
    »Nein.«
    Ich wollte zur Tür, aber der Polizist hielt mich am Arm fest. »Nicht so schnell«, sagte er. »Sie sagten, Sie seien vorgestern Abend bei ihm gewesen?«
    »Ja.«
    »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
    »So gegen halb neun.«
    »War noch jemand anders zu der Zeit hier?«
    Ich überlegte. »Ja, zwei Studenten aus unserer Abteilung – Bertrand und Elias, denke ich. Sie gingen auch gerade, als ich das Haus verließ.«
    »Gut. Überprüfen Sie das«, sagte der Polizist zu einem der Männer. »Ist Ihnen an Professor Rossi irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
    Was hätte ich sagen sollen? Ja, tatsächlich – er hat mir erzählt, dass es Vampire gibt, dass Graf Dracula noch immer unter uns weilt und dass ich womöglich einen Fluch geerbt habe durch Rossis Nachforschungen, und dann sah ich, wie sein Licht gelöscht wurde, als wäre ein Riese…
    »Nein«, sagte ich. »Wir sprachen über meine Doktorarbeit, bis ungefähr halb neun.«
    »Haben Sie das Haus zusammen verlassen?«
    »Nein. Ich ging zuerst. Er brachte mich an die Tür und ging dann zurück in sein Büro.«
    »Haben Sie irgendetwas Verdächtiges gesehen, als Sie das Gebäude verließen? Oder gehört?«
    Ich zögerte wieder. »Nein, nichts. Nur dass alle Straßenlaternen einen Moment lang ausgingen.«
    »Ja, das haben wir gehört. Aber Sie haben nichts irgendwie Ungewöhnliches gehört oder gesehen?«
    »Nein.«
    »Bis jetzt sind Sie der Letzte, der Professor Rossi gesehen hat«, setzte der Polizist noch einmal an. »Denken Sie nach. Hat er irgendetwas Außergewöhnliches getan oder gesagt, als Sie bei ihm waren? Womöglich über Depressionen, Selbstmord oder etwas in der Art gesprochen? Hat er von einer Reise geredet? Dass er wegmüsste?«
    »Nein, nichts dergleichen«, sagte ich wahrheitsgemäß.
    Der Polizist sah mich eindringlich an. »Ich brauche Ihren Namen und Ihre Adresse.« Er schrieb alles auf und wandte sich dann an den Dekan. »Können Sie für diesen jungen Mann bürgen?«
    »Er ist ganz sicher der, der er sagt.«
    »Also gut«, sagte der Polizist zu mir. »Ich möchte, dass Sie jetzt mit mir hineingehen und mir sagen, ob Ihnen etwas Ungewöhnliches auffällt. Besonders, was anders ist als vorgestern Abend. Berühren Sie nichts. Ehrlich gesagt, findet sich in aller Regel für solche Fälle am Ende eine einfache Erklärung: ein Notfall in der Familie, ein kleiner Zusammenbruch – wahrscheinlich ist er in ein, zwei Tagen wieder hier. Ich habe das schon unzählige Male erlebt. Aber da Blut auf dem Tisch war, sollten wir nicht allein auf unser Glück vertrauen.«
    Blut auf dem Tisch? Meine Beine drohten mir ihren Dienst zu versagen, aber ich zwang mich, ruhig hinter dem Polizisten herzugehen. Der Raum sah so aus, wie ich ihn Dutzende Male bei Tageslicht gesehen hatte: ordentlich, angenehm, die Möbel einladend, Bücher und Papiere in übersichtlichen Stapeln auf Schreibtisch und Abstellflächen. Ich trat näher. Mitten auf dem Tisch, auf Rossis Löschpapier, hatte sich eine dunkle Lache ausgebreitet, die sich dort schon lange befinden musste, da das Papier voll gesogen und völlig trocken war. Der Polizist legte mir eine beruhigende Hand auf die Schulter. »Kein Blutverlust, der groß genug wäre, um als Todesursache zu genügen«, sagte er. »Vielleicht ein starkes Nasenbluten oder sonst eine Art Blutung. Hatte Professor Rossi Nasenbluten, als Sie bei ihm waren? Wirkte er krank an jenem Abend?«
    »Nein«, sagte ich. »Ich habe nie gesehen, dass er… geblutet hätte, und wir sprachen

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