Der Historiker
fragte mich, was er über unser Auftauchen hier dachte und ob er vorhatte herauszufinden, wer wir waren. Als ich nach ein paar Minuten das Gefühl hatte, er werde nie von sich aus das Wort ergreifen, sprach ich ihn an. ›Professor Stoichev‹, sagte ich, ›bitte vergeben Sie uns, dass wir hier in Ihre Abgeschiedenheit eindringen. Wir sind Ihnen und Ihrer Nichte sehr dankbar, dass Sie uns empfangen haben.‹
Er betrachtete seine Hände auf dem Tisch, die schlank und mit Altersflecken gesprenkelt waren. Nach einer Weile richtete er den Blick auf mich. Seine Augen waren, wie ich schon sagte, sehr dunkel, und es waren die Augen eines jungen Mannes, wenn sein gut rasiertes olivenfarbenes Gesicht auch alt war. Seine Ohren waren ungewöhnlich groß und standen ab, lugten aus dem ordentlich geschnittenen weißen Haar hervor, und in dem hereinfallenden Sonnenlicht sahen sie fast durchsichtig aus, mit einem rötlichen Rand wie die eines Kaninchens. Und in seinen Augen mit ihrer gleichzeitigen Milde und Vorsicht lag etwas Animalisches. Seine Zähne waren gelblich und schief, und einer vorne war aus Gold. Aber er besaß noch alle, und sein Gesicht war erstaunlich, wenn er lächelte. Es war wie das eines Tieres, das plötzlich einen leuchtenden, menschlichen Ausdruck annahm. Es war ein wunderbares Gesicht, das in seiner Jugend einen ungewöhnlichen Glanz ausgestrahlt haben musste, wirkliche, sichtbare Leidenschaft. Er musste unwiderstehlich gewesen sein.
Stoichev lächelte mit solch einer Intensität, dass Helen und ich sein Lächeln nur erwidern konnten. Irina strahlte uns ebenfalls an. Sie hatte sich unter die Ikone eines Heiligen gesetzt – ich glaube, es war der heilige Georg –, der kraftvoll mit seinem Speer einen unterernährten Drachen durchbohrte. ›Ich bin sehr froh, dass Sie gekommen sind, um mich zu besuchen‹, sagte Stoichev. ›Wir erhalten hier nicht viel Besuch, und Besucher, die Englisch sprechen, sind umso seltener. Ich freue mich, dass ich mein Englisch mit Ihnen üben kann, auch wenn es, fürchte ich, nicht mehr so gut ist, wie es einmal war.‹
›Ihr Englisch ist ausgezeichnet‹, sagte ich. ›Wo haben Sie es gelernt, wenn ich fragen darf?‹
›Oh, Sie dürfen‹, sagte Professor Stoichev. ›Als junger Mann hatte ich das große Glück, im Ausland studieren zu können, eine Zeit lang davon in London. Gibt es etwas Besonderes, womit ich Ihnen helfen kann, oder wollten Sie nur meine Bibliothek besichtigen?‹ Er formulierte das so einfach, dass ich überrascht war.
›Beides‹, sagte ich. ›Wir wollten die Bibliothek besichtigen und Ihnen ein paar Fragen stellen, was unsere Forschungen angeht.‹ Ich hielt kurz inne und suchte nach Worten. ›Miss Rossi und ich sind sehr interessiert an der Geschichte Ihres Landes im Mittelalter, obwohl ich weit weniger darüber weiß, als ich sollte, und wir haben gerade ein… ein…‹ Ich begann zu zögern, denn trotz Helens kurzer Vorlesung im Flugzeug wusste ich letztlich nichts über die bulgarische Geschichte, oder doch so wenig, dass es in den Ohren dieses gelehrten Mannes, der so etwas wie ein Hüter der Vergangenheit zu sein schien, absolut absurd klingen musste. Zudem war das, worum es uns ging, so speziell und persönlich und musste so schrecklich unwahrscheinlich klingen, dass ich ganz und gar nicht damit herauskommen wollte, solange Ranov grinsend mit am Tisch saß.
›Sie interessieren sich also für das mittelalterliche Bulgarien?‹, sagte Stoichev, und mir schien, dass auch er in Ranovs Richtung blickte.
›Ja‹, sagte Helen und kam mir zu Hilfe. ›Wir interessieren uns für das klösterliche Leben des mittelalterlichen Bulgarien, und wir haben, so gut es ging, Informationen für verschiedene Aufsätze darüber zusammengetragen, die wir gern schreiben würden. Im Besonderen würden wir gern mehr über das Leben in den bulgarischen Klöstern zu Ende des Mittelalters erfahren und über die Wege, die Pilger nach Bulgarien hinein und aus dem Land heraus nahmen.‹
Stoichev strahlte, und er schüttelte mit sichtbarem Vergnügen den Kopf, wobei seine großen durchsichtigen Ohren noch mehr Licht einfingen. ›Das ist ein sehr gutes Thema‹, sagte er. Sein Blick ging in den Raum hinter uns und schien mir so tief in die Vergangenheit zu reichen, dass er den Ursprung der Zeit erkennen musste. Vielleicht sah er gerade auch, klarer als jeder andere auf dieser Welt, jene Jahre vor sich, auf die wir anspielten. ›Gibt es einen besonderen Aspekt,
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