Der Historiker
Klöstern im Mittelalter und den Pilgerrouten vor allem im fünfzehnten Jahrhundert interessiert. Das ist ein faszinierendes Jahrhundert bulgarischer Geschichte. Sie wissen, dass unser Land nach 1393 unter dem osmanischen Joch litt, obwohl es Gebiete gab, die erst im fünfzehnten Jahrhundert osmanisch wurden. Unsere eigene Kultur wurde in dieser Zeit vor allem von den Klöstern gepflegt. Ich freue mich, dass Sie sich für diese Klöster interessieren, denn sie sind eine der reichsten Quellen unseres Erbes hier in Bulgarien.‹ Er machte eine Pause und faltete seine Hände erneut, als wollte er sehen, wie bekannt uns diese Information war.
›Ja‹, sagte ich. Es half nichts. Wir würden über einige der Aspekte unserer Suche sprechen müssen, während Ranov mit am Tisch saß. Wenn ich ihn bat, uns allein zu lassen, würde er schließlich sofort noch argwöhnischer werden, was den Zweck unseres Besuchs anging. Unsere einzige Hoffnung bestand darin, unsere Fragen so akademisch und unpersönlich wie nur möglich klingen zu lassen. ›Wir glauben, dass es im fünfzehnten Jahrhundert einige interessante Verbindungen zwischen der orthodoxen Gemeinde Istanbuls und den Klöstern Bulgariens gegeben hat.‹
›Ja, natürlich, das ist wahr‹, sagte Stoichev. ›Besonders nachdem die bulgarische Kirche von Mehmed dem Eroberer der Jurisdiktion des Patriarchen von Konstantinopel unterstellt wurde. Davor war unsere Kirche selbstverständlich unabhängig, mit einem eigenen Patriarchen in Veliko Tarnovo.‹
Ich fühlte Dankbarkeit für diesen Mann mit seiner Bildung und seinen wundervollen Ohren. Meine Bemerkungen waren völlig nichtig gewesen, und doch beantwortete er sie mit umsichtiger – und informativer – Höflichkeit.
›Genau‹, sagte ich. ›Und was uns ganz besonders interessiert… Wir haben da einen Brief gefunden, als wir kürzlich in Istanbul waren‹ – ich hütete mich, zu Ranov hinüberzublicken –, ›einen Brief, der sich auf Bulgarien bezieht, über eine Gruppe Mönche, die von Konstantinopel zu einem Kloster in Bulgarien aufgebrochen sind. Das interessiert uns für einen unserer Aufsätze, wegen des Reiseweges, den sie genommen haben müssen. Vielleicht war es eine Pilgerfahrt, aber wir sind da nicht ganz sicher.‹
›Verstehe‹, sagte Stoichev. Seine Augen wirkten vorsichtiger und leuchtender als je zuvor. ›Ist der Brief datiert? Können Sie mir etwas über seinen Inhalt sagen oder wer ihn geschrieben hat, wenn Sie es wissen? Und wo Sie ihn gefunden haben? An wen er adressiert war und so weiter?‹
›Sicher‹, sagte ich. ›Wir haben eine Abschrift in Englisch dabei. Das Original ist in Slawisch abgefasst, und ein Mönch in Istanbul hat die Übersetzung für uns angefertigt. Das Original liegt im Staatsarchiv von Mehmed II. Vielleicht möchten Sie den Brief selbst lesen.‹ Ich öffnete meine Aktentasche und holte die Kopie heraus, reichte sie Stoichev und hoffte, Ranov würde nicht als Nächster danach fragen.
Stoichev nahm den Brief in die Hand, und ich sah, wie seine Augen über die ersten Zeilen flogen. ›Interessant‹, sagte er und legte ihn zu meiner Enttäuschung vor sich auf den Tisch. ›Meine Liebe‹, wandte er sich an seine Nichte. ›Ich glaube nicht, dass wir uns alte Briefe ansehen können, ohne unseren Gästen etwas zu essen und zu trinken anzubieten. Würdest du uns etwas rakiya bringen und ein kleines Mittagessen?‹ Er nickte mit besonderer Freundlichkeit in Ranovs Richtung.
Irina erhob sich mit einem Lächeln. ›Sicher, Onkel‹, sagte sie in schönem Englisch. In diesem Haus, dachte ich, war der Überraschungen kein Ende. ›Aber ich hätte gern etwas Hilfe beim Herauftragen.‹ Sie warf Ranov einen flüchtigen Blick aus ihren klaren Augen zu, und er stand auch schon auf und strich sich das Haar zurück.
›Ich helfe der jungen Dame gern‹, sagte er, und sie gingen zusammen nach unten. Ranov polterte laut die Stufen hinunter, während sich Irina auf Bulgarisch mit ihm unterhielt.
Kaum dass sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, beugte sich Stoichev vor und las den Brief mit gieriger Konzentration. Als er fertig war, sah er zu uns auf. Sein Gesicht sah zehn Jahre jünger aus, aber es wirkte auch angespannt. ›Bemerkenswert‹, sagte er leise. Aus dem gleichen Instinkt heraus standen wir auf und setzten uns zu ihm an sein Ende des langen Tisches. ›Ich bin erstaunt über diesen Brief.‹
›Ja… nicht?‹, sagte ich neugierig. ›Haben Sie irgendeine Idee,
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