Der Historiker
auch nie über seine Gesundheit.« Plötzlich wurde mir mit schrecklicher Klarheit bewusst, dass ich gerade so an unsere Gespräche gedacht hatte, als hätten sie für immer ein Ende gefunden. Meine Kehle zog sich zusammen, als ich mich daran erinnerte, wie Rossi mich an der Tür verabschiedet hatte. Hatte er sich in einem Augenblick des Zweifels vielleicht geschnitten – vielleicht sogar mit Absicht? – und war dann aus dem Zimmer gelaufen und hatte die Tür hinter sich abgeschlossen? Ich versuchte mir vorzustellen, wie er durch den Park irrte, frierend und hungrig, oder in einen Bus stieg, der ihn irgendwohin bringen würde. Nein, das passte alles nicht zu ihm. Rossi war eine stabile Persönlichkeit, so klar und überlegt wie nur sonst jemand, den ich je getroffen hatte.
»Sehen Sie sich sorgfältig um.« Der Polizist nahm die Hand von meiner Schulter. Er beobachtete mich genau, und ich spürte den Dekan und die anderen Männer in der Tür hinter uns stehen. Mir dämmerte, dass ich bis auf weiteres zu den Verdächtigen gehören würde, sollte Rossi ermordet worden sein. Aber Bertrand und Elias würden für mich zeugen, wie ich auch für sie. Ich musterte alles im Raum und versuchte, durch die Dinge hindurchzusehen. Es war eine Übung in Frustration: Alles war wirklich, normal, solide, nur Rossi fehlte ungeheuer.
»Nein«, sagte ich schließlich. »Ich kann nichts entdecken.«
»Gut.« Der Polizist drehte mich in Richtung der Fenster. »Dann sehen Sie mal da hoch.«
An der weißen Stuckdecke über dem Tisch, hoch über uns, zog sich ein dunkler, verschmierter, gut zehn Zentimeter langer Fleck so zu einem der Fenster hin, als deutete er nach draußen. »Das scheint ebenfalls Blut zu sein. Aber keine Sorge, es muss nicht von Professor Rossi sein. Die Decke ist zu hoch, um sie leicht erreichen zu können, selbst mit der Trittleiter da. Wir werden alles genau untersuchen. Jetzt denken Sie noch einmal genau nach. Erwähnte Rossi womöglich, dass ein Vogel ins Zimmer geflogen sei? Oder konnten Sie selbst etwas hören, als Sie hinausgingen? Als wenn etwas hereingekommen wäre? War eines der Fenster offen? Erinnern Sie sich?«
»Nein«, sagte ich. »Er hat nichts dergleichen erwähnt. Und die Fenster waren geschlossen, da bin ich sicher.« Ich vermochte meinen Blick nicht von dem Fleck zu lösen. Ich hatte das Gefühl, wenn ich nur genau genug hinsah, würde ich etwas aus seiner hieroglyphischen Form herauslesen können.
»Wir hatten öfter schon Vögel im Gebäude«, sagte der Dekan hinter uns. »Tauben. Die kommen immer mal wieder durch die Oberlichter.«
»Das wäre eine Möglichkeit«, sagte der Polizist. »Auch wenn wir keinerlei Kot gefunden haben, könnte das eine Möglichkeit sein.«
»Oder Fledermäuse«, sagte der Dekan. »Was ist mit Fledermäusen? In diesem alten Gemäuer leben wahrscheinlich alle möglichen Kreaturen.«
»Ja, auch das könnte sein, besonders wenn Rossi versucht hat, das Viech mit einem Besen oder Schirm oder sonst etwas zu treffen, und es dabei verwundet hat«, schlug ein Professor vor, der im Türrahmen stand.
»Haben Sie hier drin je eine Fledermaus gesehen? Oder einen Vogel?«, fragte mich der Polizist wieder.
Es kostete mich ein paar Sekunden, um das einfache Wort zu formen und über meine trockenen Lippen zu bringen. »Nein«, sagte ich, konnte aber den Sinn der Frage kaum verstehen. Meine Augen hatten endlich das innere Ende des dunklen Flecks gefunden und auch, wovon er sich wegbewegte. Auf dem obersten Brett von Rossis Bücherregal, bei seinen »Misserfolgen«, fehlte ein Band. Dort, wohin er vor zwei Abenden sein geheimnisvolles Buch zurückgestellt hatte, klaffte eine schmale schwarze Lücke zwischen den Buchrücken.
Man führte mich wieder nach draußen, schlug mir auf den Rücken und sagte, ich solle mir keine Sorgen machen; ich muss so weiß ausgesehen haben wie ein Blatt Papier. Ich wandte mich zu dem Polizisten um, der die Tür hinter uns zuzog und abschloss. »Besteht die Möglichkeit, dass Professor Rossi längst irgendwo in einem Krankenhaus ist, wenn er sich geschnitten oder ihn jemand verletzt hat?«
Der Polizist schüttelte den Kopf. »Wir stehen mit den Krankenhäusern in Verbindung und haben eine erste Überprüfung durchgeführt. Kein Hinweis auf ihn. Warum? Glauben Sie, er könnte sich selbst verletzt haben? Ich dachte, Sie hätten gesagt, er habe auf Sie weder deprimiert noch selbstmordgefährdet gewirkt.«
»Oh, das tat er auch nicht.« Ich holte tief
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