Der Historiker
warmherzig: »Mein lieber, unglücklicher Nachfolger…«
Mein Vater hielt plötzlich inne, und das Zittern in seiner Stimme ließ mich taktvoll den Blick abwenden, bevor er sich zwingen konnte fortzufahren. In unausgesprochenem Einverständnis griffen wir nach unseren Jacken, schlenderten über die berühmte kleine Piazza und taten so, als berge die Kirchenfassade immer noch Interessantes für uns.
7
Mein Vater verließ Amsterdam mehrere Wochen nicht, und während dieser Zeit fühlte ich mich auf eine neue Weise überwacht. Als ich eines Tages ein wenig später als gewöhnlich aus der Schule nach Hause kam, telefonierte Mrs Clay gerade mit ihm. Sie reichte mir sofort den Hörer. »Wo warst du?«, fragte mein Vater. Er rief aus seinem Büro im Zentrum für Frieden und Demokratie an. »Ich habe bereits zweimal angerufen, und Mrs Clay wusste nicht, wo du warst. Du hast sie in ziemlichen Aufruhr versetzt.«
Er war es, den ich in Aufruhr versetzt hatte, das war ihm leicht anzuhören, auch wenn er seine Stimme unter Kontrolle hatte. »Ich war in einem neuen Coffeeshop bei der Schule und habe etwas gelesen«, sagte ich.
»Gut«, sagte mein Vater. »Warum rufst du nicht Mrs Clay oder mich an, wenn du dich etwas verspätest? Ganz einfach.«
Ich stimmte ihm nur ungern zu, versprach aber, in Zukunft anzurufen. Mein Vater kam an jenem Abend früher zum Essen und las mir aus Dickens’ Die großen Erwartungen vor. Schließlich holte er ein paar Fotoalben hervor, und wir sahen uns gemeinsam alte Bilder an: Paris, London, Boston, meine ersten Rollschuhe, meine Abschlussfeier nach der dritten Klasse, Paris, London, Rom. Es war immer nur ich, wie ich vor dem Pantheon stand oder vorm Tor von Père Lachaise. Wir waren immer nur zu zweit, und mein Vater machte die Fotos. Um neun Uhr überprüfte er Türen und Fenster und schickte mich ins Bett.
Als ich das nächste Mal später kam, rief ich vorher Mrs Clay an. Ich erklärte ihr, dass wir, ein paar Schulfreundinnen und ich, zusammen Tee trinken und dabei die Hausaufgaben machen wollten. Sie sagte, das sei kein Problem. Ich legte auf und ging in die Universitätsbibliothek. Johan Binnerts, der Bibliothekar der mittelalterlichen Sammlung, gewöhnte sich langsam an meinen Anblick, dachte ich, zumindest lächelte er bedächtig, wenn ich mit einer neuen Frage kam, und er erkundigte sich immer, wie es mit meinen Geschichtsaufsätzen lief. Binnerts suchte mir einen Text aus dem neunzehnten Jahrhundert heraus, über den ich mich ganz besonders freute, und ich verbrachte einige Zeit damit, mir das eine oder andere herauszuschreiben. Mittlerweile habe ich mein eigenes Exemplar dieses Textes in meinem Arbeitszimmer in Oxford – vor einigen Jahren habe ich es in einem Antiquariat gefunden: Lord Gellings Geschichte Zentraleuropas. Nach all der Zeit ist mir das Buch ans Herz gewachsen, auch wenn mir jedes Mal, wenn ich es aufschlage, ein bisschen flau wird. Ich sehe immer noch meine Hand, so weich und jung, wie sie verschiedene Absätze daraus in ein Schulheft überträgt.
Abgesehen davon, dass er große Grausamkeit walten ließ, zeigte Vlad Dracula auch großen Kampfesmut. Seine Kühnheit ging so weit, dass er im Jahre 1462 mit einer Reiterschar die Donau überquerte und bei Nacht das Lager von Sultan Mehmed II. überfiel, der seine Truppen zusammengezogen hatte, um die Walachei anzugreifen. Bei seinem Überfall tötete Dracula Tausende türkischer Soldaten, und der Sultan vermochte kaum sein Leben zu retten, bis die osmanische Garde die Walachen zum Rückzug zwang.
Über jeden großen Feudalherren seiner Zeit in Europa lässt sich womöglich ähnlich viel Material aufspüren, in vielen Fällen auch mehr oder gar, seltener dann, viel mehr. Das Außergewöhnliche an Dracula ist die Langlebigkeit dieser Informationen, oder anders gesagt: seine Weigerung, als historische Figur zu sterben, um das Fortbestehen der Legende über ihn zu gewährleisten. Die wenigen in England verfügbaren Quellen beziehen sich direkt oder indirekt auf andere Quellen, deren Vielfalt jeden Historiker zutiefst neugierig machen muss. Dracula scheint in Europa schon zu Lebzeiten berüchtigt gewesen zu sein, was eine ziemliche Leistung bedeutet in jener Zeit, da der Kontinent eine riesige und nach heutigen Maßstäben zerrissene Welt darstellte, deren Regierungen und Reiche durch reitende Boten und Schiffsfracht verbunden waren, und entsetzliche Grausamkeit beim Adel keine ungewöhnliche Erscheinung
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