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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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unternehmen gedachte, um dieses Projekt fortzuführen, diese dunkle Festung zu stürmen? Oder war ich dieser Nächste? War das hier nur ein Beweis seiner Verrücktheit?
    Ich öffnete den Umschlag und sah ein ganzes Bündel Papiere verschiedener Größe und Stärke, viele alt, brüchig und empfindlich, einige äußerst dünn und engzeilig voll getippt. Das Material war umfangreich. Ich würde es ausbreiten müssen. Ich ging zum nächstgelegenen honigfarbenen Tisch in der Nähe des Zentralkatalogs. Es waren immer noch viele Leute da, freundliche Fremde; dennoch sah ich mich argwöhnisch um, bevor ich die Dokumente auf dem Tisch ausbreitete.
    Zwei Jahre zuvor hatte ich mich mit einigen von Thomas Morus’ Handschriften beschäftigt und mit einigen der älteren Briefe von Hans Albrecht aus Amsterdam und erst kürzlich geholfen, eine Reihe flämischer Hauptbücher aus den Achtzigern des siebzehnten Jahrhunderts zu katalogisieren. Als Historiker wusste ich, dass die Ordnung, in der man etwas in einem Archiv findet, ein wichtiger Bestandteil seines Inhalts oder seiner Botschaft ist. Ich nahm Bleistift und Papier heraus und schrieb auf, in welcher Ordnung ich die Dokumente vorfand. Das erste, das oberste von Rossis Schriftstücken war von dünnstem Florpostpapier. Es war äußerst sauber mit der Maschine geschrieben, mehr oder weniger in Briefform gehalten. Ich hielt seine Seiten vorsichtig zusammen, ohne mir einen genaueren Blick darauf zu erlauben.
    Es folgte eine Karte, sorgfältig, aber ungelenk von Hand gezeichnet. Sie verblich bereits, und die Namen waren auf dem dicken, sich fremdländisch anfühlenden Notizpapier, das offenbar von einem alten Block gerissen war, nur mehr schwer zu entziffern. Danach kamen zwei weitere, ähnliche Karten, dann drei Seiten wirrer, handgeschriebener Notizen, mit Tinte ausgeführt und auf den ersten Blick recht leserlich. Ich nahm auch diese nicht auseinander. Jetzt kam eine gedruckte Broschüre, auf Englisch, die Touristen einlud, Romantic Romania zu besuchen, die den Illustrationen nach aus den neunzehnhundertzwanziger oder -dreißiger Jahren stammen musste; zwei quittierte Hotelrechnungen und Quittungen für Speisen, die in dem Hotel eingenommen worden waren. In Istanbul. Dann eine große alte Straßenkarte des Balkans in ungenauem Zweifarbendruck. Zuletzt kam ein kleiner elfenbeinfarbener Umschlag, der versiegelt und unbeschriftet war. Ich legte ihn heldenhaft ungeöffnet zur Seite.
    Das war es. Ich drehte den großen braunen Umschlag um und schüttelte ihn sogar, damit ich auch wirklich nicht das kleinste Fetzchen Papier übersah; und während ich so schüttelnd dastand, hatte ich plötzlich – und zum ersten Mal – ein Gefühl, das mich bei allen nachfolgenden Anstrengungen, die von mir gefordert waren, begleiten würde: Ich spürte Rossis Gegenwart, seinen Stolz auf meine Gründlichkeit. Es war so, als lebte und spräche sein Geist durch die sorgfältigen Methoden, die er mir selbst beigebracht hatte, zu mir. Ich wusste, dass er zügig arbeitete, aber auch, dass er nichts missbrauchte oder vernachlässigte – kein Dokument, kein Archiv, wie weit von zu Hause es sich auch befinden mochte, und erst recht keine Idee, für wie unmodern sie in der Zunft auch galt. Sein Verschwinden und die Tatsache, wie ich ungestüm dachte, dass er mich jetzt so sehr brauchte, machte uns fast zu gleichberechtigten Forschern. Und ich spürte auch, dass er mir diese Situation, dieses Ergebnis, diese Gemeinsamkeit, von Anbeginn an versprochen und nur auf den Zeitpunkt gewartet hatte, wann ich mir das alles verdient haben würde.
    Ich hatte alle staubig riechenden Dokumente vor mir auf dem Tisch liegen und fing jetzt mit den Briefen an, jenen langen, eng getippten Episteln auf Florpostpapier, die nur wenige Fehler und Korrekturen enthielten. Es gab jeweils ein Exemplar, und sie schienen bereits in chronologischer Reihenfolge zu liegen. Jeder der Briefe war sorgfältig datiert, alle stammten aus dem Dezember 1930, waren also mehr als zwanzig Jahre alt. Auf jedem Briefkopf stand »Trinity College, Oxford«, ohne weitere Adresse. Ich überflog den ersten Brief. Er erzählte die Geschichte, wie Rossi das merkwürdige Buch entdeckt und in Oxford erste Nachforschungen angestellt hatte. Der Brief war mit »Der Ihre in tiefstem Kummer, Bartholomew Rossi« unterschrieben, und er begann – ich hielt das dünne, durchsichtige Papier behutsam in der Hand, auch wenn diese leicht zu zittern anfing – gewohnt

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