Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
Vom Netzwerk:
sehr ruhig. Kommen Sie‹, sagte er, ›wir besuchen den Abt. Ich habe ihn gestern angerufen, und er erwartet uns.‹ Er ging erstaunlich energisch voraus und sah sich neugierig um, als gebe ihm dieser Ort neues Leben.
    Die Empfangsräume des Abtes lagen im Erdgeschoss des Klosterflügels. Ein schwarz gewandeter Mönch mit langem braunem Bart hielt uns die Tür auf. Stoichev nahm den Hut ab und trat als Erster ein. Der Abt erhob sich von einer Bank an der Wand und kam zu uns, um uns zu begrüßen. Er und Stoichev begrüßten sich sehr herzlich, Stoichev küsste dem Abt die Hand, und der segnete den alten Mann. Der Abt war schlank, von aufrechter Haltung und vielleicht um die sechzig. Seinen Bart durchzogen graue Strähnen, und die blauen Augen – ich war überrascht, dass es blauäugige Bulgaren gab – strahlten Ruhe aus. Er schüttelte uns die Hand auf sehr moderne Art, und auch Ranov, der ihn mit offensichtlicher Herablassung behandelte. Er bedeutete uns, wir sollten uns setzen, und ein Mönch brachte ein Tablett mit Gläsern, nicht voller rakiya, hier an diesem Ort, sondern mit kühlem Wasser gefüllt, dazu kleine Portionen der Paste mit Rosengeschmack, die wir bereits in Istanbul kennen gelernt hatten. Ich sah, dass Ranov nichts trank, als befürchtete er, vergiftet zu werden.
    Der Abt war sichtlich beglückt, Stoichev zu sehen, und ich stellte mir vor, dass der Besuch für beide eine Freude sein musste. Er fragte uns durch Stoichev, von wo in Amerika wir kämen, ob wir schon andere Klöster in Bulgarien besucht hätten, was er tun könne, um uns zu helfen, und wie lange wir bleiben wollten. Stoichev sprach ausführlich mit ihm und übersetzte bereitwillig, damit wir die Fragen des Abtes beantworten konnten. Wir könnten die Bibliothek so intensiv nutzen, wie wir wollten, sagte der Abt. Wir könnten in der Herberge übernachten. Wir sollten den Messen in der Kirche beiwohnen. Wir seien überall willkommen, nur nicht im Bereich der Mönche – das sagte er mit einem sanften Lächeln in Richtung Helen und Irina –, und er wolle nichts davon hören, dass Professor Stoichevs Freunde für ihre Unterkunft zu zahlen gedächten. Wir dankten ihm, und Stoichev erhob sich. ›Nun‹, sagte er, ›da wir die freundliche Erlaubnis dazu besitzen, werden wir in die Bibliothek gehen.‹ Er war bereits behutsam auf dem Weg zur Tür, verbeugte sich und küsste dem Abt die Hand.
    ›Mein Onkel ist sehr aufgeregt‹, flüsterte Irina uns zu. ›Er sagte mir, dass Ihr Brief eine große Entdeckung für die bulgarische Geschichte ist.‹ Ich fragte mich, ob sie wusste, wie viel tatsächlich von diesem Abstecher abhing und welche Schatten über unserem Weg lagen, aber es war mir nicht möglich, noch irgendetwas in ihrer Miene zu lesen. Sie half ihrem Onkel durch die Tür, und wir folgten ihm durch die wunderbaren Galerien, die den Hof umschlossen. Ranov hielt sich mit einer Zigarette in der Hand hinter uns.
    Die Bibliothek befand sich in einem Eckzimmer im Erdgeschoss, der mehr eine große Höhle als ein normaler Raum war. Ein schwarzbärtiger Mönch führte uns hinein. Er war ein großer Mann mit hagerem Gesicht, und mir schien, dass er Stoichev einen Moment lang unbewegt ansah, bevor er uns zunickte. ›Das ist Bruder Rumen‹, sagte Stoichev. ›Er ist der derzeitige Bibliothekar. Er wird uns zeigen, was wir sehen wollen.‹
    Ein paar Bücher und Handschriften lagen in gläsernen Ansichtsvitrinen und waren für die Touristen mit Erklärungen versehen. Ich hätte sie mir gerne angeschaut, aber wir waren auf dem Weg zu einem tiefer liegenden Teil, der sich am Ende des Raums öffnete. Es war wunderbar kühl in den Tiefen des Klosters, und selbst die wenigen nackten Glühbirnen vermochten nicht ganz die tiefe Dunkelheit aus den Ecken zu vertreiben. In diesem inneren Heiligtum befanden sich Schränke und Regale voller Kästen und Körbe mit Büchern. In der Ecke stand auf einem kleinen Altar eine Ikone der Jungfrau, und ihr steifes, frühreifes Kind wurde von zwei rotflügeligen Engeln flankiert; vor ihnen hing eine edelsteinbesetzte goldene Lampe. Die alten, alten Wände waren weiß verputzt, und der Geruch, der uns einfing, war der von langsam zerfallendem Pergament und Samt. Ich war froh zu sehen, dass Ranov wenigstens den Anstand besessen hatte, seine Zigarette auszumachen, bevor er uns in diese Schatzkammer folgte.
    Stoichev tippte mit der Fußspitze auf den Boden, als wollte er Geister beschwören. ›Hier‹, sagte er, ›sehen

Weitere Kostenlose Bücher