Der Historiker
Sie das Herz des bulgarischen Volkes. Hier haben Mönche jahrhundertelang unser Erbe erhalten, oft im Geheimen. Generationen treuer Mönche haben diese Manuskripte kopiert und sie versteckt, wenn das Kloster von den Ungläubigen angegriffen wurde. Dennoch ist es nur ein kleiner Teil der Hinterlassenschaft unseres Volkes, vieles davon wurde zerstört. Aber wir sind froh über das, was noch da ist.‹
Er sprach mit dem Bibliothekar, der begann, sorgsam durch beschriftete Kästen zu sehen, die im Regal standen. Nach ein paar Minuten nahm er einen hölzernen Kasten herunter und holte ein paar Bände heraus. Der obere war mit einem erstaunlichen Gemälde von Christus geschmückt. Zumindest hielt ich den Dargestellten für Christus: Er hielt eine Kugel in der einen und ein Szepter in der anderen Hand, das Gesicht umwölkt von byzantinischer Melancholie. Zu meiner Enttäuschung befanden sich Bruder Kyrills Briefe nicht in diesem herrlichen Einband, sondern in einem einfacheren darunter, der aussah wie alter Knochen. Der Bibliothekar trug ihn zum Tisch, und Stoichev nahm Platz und öffnete ihn voller Genuss. Helen und ich zogen unsere Notizbücher heraus. Ranov strich an den Regalen entlang, als sei es ihm hier zu langweilig.
›Ich erinnere mich‹, sagte Stoichev, ›dass es hier zwei Briefe gibt, und es ist unklar, ob noch mehr existiert haben – ob Bruder Kyrill noch weitere geschrieben hat, welche die Zeit nicht überdauert haben.‹ Er deutete auf das erste Blatt. Es war mit engen, gerundeten kalligrafischen Zeichen bedeckt, das Pergament war sehr, sehr alt, fast schon braun. Er wandte sich mit einer Frage an den Bibliothekar. ›Ja‹, sagte er erfreut. ›Sie haben sie auf Bulgarisch abgetippt, genau wie einige andere seltene Handschriften aus dieser Zeit.‹ Der Bibliothekar stellte einen Ordner vor ihn hin, und Stoichev saß eine Weile schweigend da, während er die maschinenschriftlichen Seiten prüfte und sich dazu immer wieder über das alte Pergament beugte. ›Sie haben ziemlich gute Arbeit geleistet‹, sagte er schließlich. ›Ich werde es Ihnen, so gut es geht, übersetzen, damit Sie sich Notizen machen können.‹ Und damit las er uns eine stockende Version der beiden Briefe vor.
Eure Exzellenz, Herr Abt Eupraxios:
Wir sind jetzt seit drei Tagen auf der hohen Straße und reisen von Laota Richtung Vin. Eine Nacht haben wir in der Scheune eines guten Bauern geschlafen, eine Nacht in der Klause von Sankt Michael, wo heute keine Mönche mehr leben, aber wo man uns wenigstens Zuflucht in einer trockenen Höhle gewährte. In der letzten Nacht waren wir zum ersten Mal gezwungen, unser Lager im Wald aufzuschlagen, indem wir Decken auf den ländlich rauen Boden breiteten und unsere Körper zwischen Pferde und Wagen betteten. Wölfe kamen nachts nahe genug, dass wir ihr Heulen hören konnten, worauf die Pferde in Panik gerieten. Unter großen Schwierigkeiten konnte wir sie beruhigen. Jetzt bin ich herzlich froh über die Anwesenheit von Bruder Ivan und Theodosius, so groß und stark sind sie, und ich preise unsere Weisheit, sie mit uns genommen zu haben.
Heute Abend sind wir Gäste im Hause eines Hirten von einigem Wohlstand und ebensolcher Frömmigkeit. Ihm gehören dreitausend Schafe in der Gegend, sagt er uns, und wir sind gebeten, auf seinen weichen Schaffellen und Matratzen zu schlafen, obwohl ich den nackten Boden als meiner Andacht näher gewählt habe. Wir haben den Wald hinter uns gelassen und bewegen uns über offene Hügel, die sich in alle Richtungen erstrecken, wo wir in Regen wie auch in Sonnenschein geraten können. Der gute Hausherr erklärt uns, dass sie zweimal schon Überfälle durch Ungläubige von der anderen Seite des Flusses erlitten haben, zu dem es nur mehr ein paar Tagesmärsche sind, wenn Bruder Angelus wieder auf die Beine kommt und mit uns Schritt halten kann. Ich überlege, ob ich ihn auf einem Pferd reiten lassen soll, auch wenn das geheiligte Gewicht, das sie ziehen, schon genug an ihnen zerrt. Glücklicherweise haben wir keinerlei Anzeichen von ungläubigen Soldaten auf der Straße entdeckt.
Euer demütigster Diener in Christus,
Bruder Kyrill
April, im Jahre unseres Herrn 6985
Eure Exzellenz, Herr Abt Eupraxios:
Die Stadt liegt einige Wochen hinter uns, und wir bewegen uns nun offen durch das Gebiet der Ungläubigen. Ich traue mich nicht, unsere Position aufzuschreiben, für den Fall, dass man uns gefangen nimmt. Vielleicht hätten wir doch den Seeweg wählen
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