Der Historiker
würde, wir aber nicht, oder Kyrill bezog sich auf eine geheime Vereinbarung zwischen ihnen. Wir müssen es jedoch im Kopf behalten, da Bruder Kyrill es als das Zeichen benennt, das ihnen zeigen wird, dass sie am richtigen Ort angekommen sind.‹
Ich kämpfte immer noch mit meiner Enttäuschung und begriff, dass ich von diesen Briefen in ihrem verblichenen Umschlag den letzten Schlüssel zur Lösung unserer Suche erwartet hatte, oder dass sie wenigstens die Karten etwas erhellen würden, von denen ich immer noch hoffte, dass sie uns weiterbrächten.
›Es gibt noch einen wichtigen Punkt, der sehr merkwürdig ist.‹ Stoichev rieb sich das Kinn. ›In dem Istanbuler Brief heißt es, dass der Schatz, den sie suchen, vielleicht eine heilige Reliquie aus Tsarigrad, sich in einem bestimmten Kloster in Bulgarien befindet, und sie deshalb dorthin müssen. Wenn Sie so nett wären, mir die Stelle noch einmal vorzulesen, Professor. Bitte.‹
Ich hatte den Istanbuler Brief bereits hervorgeholt, um ihn neben mir zu haben, als wir die anderen Schreiben Bruder Kyrills studierten. ›Es heißt:… er hat uns darüber aufgeklärt, dass das, wonach wir suchen, bereits aus der Stadt gebracht wurde und an einen sicheren Ort in den besetzten Gebieten Bulgariens.‹
›Genau das ist die Stelle‹, sagte Stoichev. ›Die Frage ist‹ – und er tippte mit seinem langen Zeigefinger auf den Tisch –, ›warum sollte eine heilige Reliquie 1477 aus Konstantinopel geschmuggelt worden sein? Die Stadt war seit 1453 osmanisch, und die meisten Reliquien waren bei der Eroberung zerstört worden. Warum schickte das Kloster Panachrantos vierundzwanzig Jahre später eine übrig gebliebene Reliquie nach Bulgarien, und warum war gerade das die Reliquie, deretwegen die Mönche nach Konstantinopel gekommen waren?‹
›Nun‹, erinnerte ich ihn, ›wir wissen aus dem Brief, dass auch die Janitscharen nach dieser Reliquie suchten, also war sie auch für den Sultan von Wert.‹
Stoichev grübelte. ›Ja, aber die Janitscharen suchten danach, nachdem der Schatz aus dem Kloster weggeschafft worden war.‹
›Es muss für die Osmanen ein heiliges Objekt von politischer Kraft gewesen sein und gleichfalls ein spiritueller Schatz für die Mönche von Snagov.‹ Helen runzelte die Stirn und klopfte sich mit dem Stift auf die Wange. ›Vielleicht ein Buch?‹
›Ja‹, sagte ich jetzt aufgeregt. ›Was, wenn sich in dem Buch Informationen befanden, die die Osmanen wollten und die Mönche brauchten?‹ Ranov sah mich von der anderen Seite des Tisches mit zusammengekniffenen Augen an.
Stoichev nickte langsam, aber dann wurde mir bewusst, dass Nicken Verneinung bedeutete. ›Bücher aus dieser Zeit enthielten gewöhnlich keine politischen Informationen. Es waren religiöse Texte, die vielfach kopiert wurden zum Gebrauch im Kloster – oder in den Koranschulen und Moscheen, bei den Osmanen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass die Mönche eine so gefährliche Reise für einen Band mit dem heiligen Evangelium unternommen hätten. Solche Bücher hätten sie selbst in Snagov gehabt.‹
›Eine Minute.‹ Helens Augen weiteten sich. ›Wartet. Es muss etwas gewesen sein, das mit Snagovs Bedürfnissen zu tun hatte, oder denen des Drachenordens, oder vielleicht auch der Totenwache für Vlad Dracula… Erinnert ihr euch an die Chronik? Der Abt wollte, dass Dracula an einem anderen Ort begraben wurde.‹
›Das ist wahr‹, überlegte Stoichev. ›Er wollte, dass der Leichnam nach Tsarigrad geschickt wurde, selbst wenn das Leben seiner Mönche dadurch in Gefahr geriet.‹
›Ja‹, sagte ich. Ich wollte noch etwas anderes sagen, um einen weiteren Pfad der Überlegung entlangzuwandern, aber plötzlich drehte sich Helen zu mir und schüttelte meinen Arm.
›Was?‹, sagte ich, aber da hatte sie sich schon wieder gefasst.
›Nichts‹, sagte sie, ohne dabei mich oder Ranov anzusehen. Ich betete zu Gott, dass er endlich einmal aufstünde und nach draußen ginge, um zu rauchen oder weil ihm unser Gerede langweilig wurde. Dann könnte Helen frei sprechen. Stoichev musterte sie neugierig, und nach einer Weile begann er mit eintöniger Stimme zu erklären, wie man im Mittelalter Manuskripte anfertigte und kopierte: Mitunter taten das Mönche, die völlig ungebildet waren und so Generationen von kleinen Irrtümern in die Manuskripte hineinwoben. Er legte dar, wie man ihre verschiedenen Handschriften in unserer Zeit kodifizierte. Es brachte mich ziemlich durcheinander,
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