Der Historiker
mit Ehrfurcht. Das Kloster lag in einem dramatisch tiefen Tal, füllte es dort unten fast, und über seinen Mauern und Kuppeln erhob sich das Rilagebirge, dessen Abhänge äußerst steil sind und voller hoher Fichten stehen. Ranov hatte seinen Wagen im Schatten des Haupttores geparkt, durch das wir mit ein paar Touristengruppen gingen. Es war ein heißer, trockener Tag, und der Balkansommer schien sich auf uns zu senken. Staub wirbelte uns um die Füße. Die großen hölzernen Flügel des Tores waren geöffnet, und als wir durch sie hindurchtraten, eröffnete sich uns ein Blick, den ich nie vergessen werde. Um uns herum erhoben sich die gestreiften Mauern der Klosterfestung mit ihren langen hölzernen Galerien. Etwa ein Drittel des großen Innenhofes nahm eine Kirche mit wunderbaren Proportionen ein, ihr Eingang lag unter offenen Arkaden, und die Wände waren über und über mit Fresken bedeckt; oben glänzten die Kuppeln golden in der Mittagssonne. Daneben stand ein rechteckiger Turm, ein Bollwerk aus grauem Stein, der erkennbar älter war als alles, was sich sonst noch dem Blick darbot. Stoichev erklärte uns, das sei der Hrelyos-Turm, den sich ein Edelmann im Mittelalter zum Schutz vor seinen Feinden im Innern gebaut habe. Es war der einzig verbliebene Teil des ersten Klosters hier, das von den Türken niedergebrannt worden war und Jahrhunderte später in seiner heute noch zu bewundernden farbigen Pracht wiederaufgebaut wurde. Als wir dort standen, begannen die Glocken zu läuten, und ein Schwarm Vögel erhob sich in den Himmel, immer höher stiegen sie, und als ich ihnen mit dem Blick folgte, sah ich die unvorstellbar hohen Gipfel über uns – bis dort hinauf würde man mindestens einen Tag brauchen. Ich atmete tief ein. War Rossi hier irgendwo an diesem alten Ort?
Helen, die sich ein dünnes Tuch über das Haar gebunden hatte, stand neben mir und hakte sich bei mir unter. Ich musste an jenen Moment in der Hagia Sophia in Istanbul denken, der bereits Geschichte zu sein schien und doch erst Tage zurücklag, als sie so fest nach meiner Hand gegriffen hatte. Die Osmanen hatten dieses Land hier erobert, lange bevor Konstantinopel in ihre Hände fiel. Im Grunde hätten wir unsere Reise hier und nicht in der Hagia Sophia beginnen müssen. Andererseits hatten die Lehren aus Byzanz, seine eleganten Künste und seine Architektur, schon lange vorher in die Ferne gestrahlt und auch die bulgarische Kultur befruchtet. Heute war die Hagia Sophia ein Museum zwischen Moscheen, während dieses total abgeschlossene Tal von byzantinischer Kultur überfloss.
Stoichev, der neben uns stand, freute sich sichtbar über unser Staunen. Irina, sie trug einen breitkrempigen Hut, hielt seinen Arm. Nur Ranov stand für sich, blickte finster drin und wandte argwöhnisch den Kopf, als eine Gruppe schwarz gewandeter Mönche auf ihrem Weg zur Kirche an uns vorbeikam. Es war mühsam für uns gewesen, ihn dazu zu bringen, Stoichev und Irina mit dem Auto abzuholen und mitzunehmen. Er wollte, dass Stoichev die Ehre hatte, uns Rila zu zeigen, sah aber keinen Grund, warum der alte Mann nicht den Bus nehmen sollte wie der Rest des bulgarischen Volkes. Ich verschluckte die Bemerkung, dass ja auch er, Ranov, nicht daran denke, den Bus zu nehmen. Am Ende hatten wir ihn so weit, was aber Ranov nicht davon abhielt, fast den ganzen Weg von Sofia zu Stoichevs Haus über den Professor zu schimpfen. Stoichev habe seinen Ruhm dazu benutzt, Aberglauben und antipatriotisches Gedankengut zu verbreiten. Jedermann wisse, dass er sich widersetzt habe, seine völlig unwissenschaftliche Treue zur orthodoxen Kirche aufzugeben. Er habe einen Sohn, der in Ostdeutschland studiere und fast schon so schlimm sei wie er. Aber wir hatten die Schlacht gewonnen, und Stoichev konnte mit uns fahren, und als wir zum Mittagessen in einem Gasthaus in den Bergen Rast machten, flüsterte Irina dankbar, dass sie versucht haben würde, ihren Onkel ganz von der Reise abzubringen, wenn sie mit dem Bus hätten fahren müssen. Eine solche Fahrt in dieser Hitze wäre zu viel für ihn gewesen.
›In dem Flügel dort leben die Mönche noch heute‹, sagte Stoichev. ›Und in der Seite drüben ist die Herberge, in der wir übernachten werden. Sie werden sehen, wie friedlich es hier nachts ist, trotz all der Besuchergruppen, die über Tag herkommen. Das Kloster ist einer unserer größten Schätze, und so viele Menschen kommen, um es zu besuchen, besonders im Sommer. Aber nachts wird es sehr,
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