Der Historiker
Helen, die neben mir saß, drückte mir den Arm. Es war eine Musik, die wie ein Zyklon in die Luft hinaufwirbelte und in einem Rhythmus dahinrüttelte, den ich nicht kannte, der aber unwiderstehlich war, als sich mein Fuß erst darin verfangen hatte. Das Akkordeon atmete ein und aus, und die Töne sprossen aus den Fingern des Akkordeonisten. Ich war verblüfft, mit welcher Schnelligkeit und Energie sie alle spielten. Die Musik ließ die Zuhörer in Freuden- und Anfeuerungsrufe ausbrechen.
Nach ein paar Minuten nur sprangen einige der Männer auf, packten sich gegenseitig bei den Gürteln und fingen so lebhaft an zu tanzen, wie es zur Musik passte. Ihre polierten Schuhe hoben sich und stampften aufs Gras. Bald schon gesellten sich einige Frauen in schlichten Kleidern zu ihnen, die mit aufrechten, ruhigen Oberkörpern tanzten, aber den Füßen konnte man kaum mit den Augen folgen. Die Gesichter der Tanzenden strahlten, alle lachten, als könnten sie nicht anders, und die Zähne des Akkordeonisten blitzten wie zur Antwort. Der Mann, der die Reihe der Tanzenden anführte, hatte ein weißes Taschentuch herausgezogen und hielt es hoch in die Luft, um die anderen zu führen, in wilden Kreisen wirbelte er es herum. Helens Augen strahlten ebenfalls, und sie trommelte mit der Hand auf den Tisch, als könnte sie nicht still sitzen. Die Musiker spielten weiter und weiter, während der Rest von uns Beifall klatschte, ihnen zuprostete und trank, und die Tanzenden zeigten keine Anzeichen von Ermüdung. Endlich endete das Stück, und die Reihe fiel auseinander, alle wischten sich den reichlich vorhandenen Schweiß ab und lachten laut. Die Männer kamen, um ihre Gläser nachzufüllen, und die Frauen suchten nach ihren Taschentüchern und richteten sich kichernd das Haar.
Dann begann der Akkordeonist erneut zu spielen, aber diesmal war es ein langsames Trillern mit den lang hingezogenen Tönen einer wehklagenden Melodie. Er warf seine langen Haare zurück und zeigte uns beim Singen die Zähne. Wobei es nur halb ein Lied zu sein schien und halb ein Klagen. Der Bariton des Sängers war so ergreifend, dass es mein Herz zusammenschnürte und mit dem Gefühl von Verlust füllte, allem Verlust, den ich je in meinem Leben erlitten hatte. ›Was singt er da?‹, fragte ich Stoichev, der zu uns herübergekommen war, um so meine Gefühle zu verbergen.
›Es ist ein altes Lied, sehr alt. Ich denke, mindestens drei- oder vierhundert Jahre. Es erzählt die Geschichte eines hübschen bulgarischen Mädchens, das von türkischen Häschern gejagt wird. Sie wollen sie für den Harem des örtlichen Paschas, und sie widersetzt sich. Sie läuft auf einen hohen Berg hinter ihrem Haus, und die Jäger reiten ihr hoch zu Pferde nach. Oben auf dem Berg ist eine Felsspitze. Sie ruft, dass sie lieber sterbe, als die Geliebte eines Ungläubigen zu werden, und dann springt sie in die Tiefe. Später entspringt eine Quelle unten am Berg, und es ist das reinste, süßeste Wasser im Tal.‹
Helen nickte. ›Wir haben ein ganz ähnliches Lied in Rumänien.‹
›Es gibt sie, wo immer die Völker des Balkans von den Osmanen unterjocht wurden, denke ich‹, sagte Stoichev ernst. ›In der bulgarischen Folklore gibt es Tausende solcher Lieder mit verschiedenen Themen. Alle sind ein Aufschrei des Protestes gegen die Versklavung unseres Volkes.‹
Der Akkordeonspieler schien zu glauben, dass er unsere Herzen ausreichend gerührt hatte, denn am Ende des Liedes lächelte er verschmitzt, und schon erschallte wieder laute Tanzmusik. Dieses Mal reihten sich fast alle Gäste in die lange Reihe ein, die sich um die Terrasse bewegte. Einer der Männer drängte uns mitzumachen, und in der nächsten Sekunde schon war Helen hinter ihm, während ich fest auf meinem Platz neben Stoichev sitzen blieb. Es machte mir jedoch Freude, sie zu beobachten. Ohne Schwierigkeiten nahm sie den Tanzschritt auf, etwas davon musste in ihrem Blut sein. Sie hielt sich mit natürlicher Würde, und ihre Füße bewegten sich sicher im wilden Rhythmus. Ich folgte ihrer geschmeidigen Gestalt in der hellen Bluse und dem schwarzen Rock und dem glühenden Gesicht mit den dunklen Locken, die sich aus ihren Kämmen befreiten. Und ich betete, dass ihr nie etwas zustoße, und fragte mich, ob sie sich von mir beschützen lassen würde.
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Wenn mich der erste Blick auf Stoichevs Haus mit einer plötzlichen Hoffnungslosigkeit erfüllt hatte, so erfüllte mich der erste Blick auf das Kloster Rila
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