Der Historiker
noch übrig ist, dir geben kann, meine Kleine, wenn du eine Frau bist.
Deine dich liebende Mutter, Helen Rossi
Juni 1962
Meine geliebte Tochter,
heute ist einer der schlechten Tage. (Ich werde diese Karte nie abschicken. Wenn ich je eine von ihnen abschicke, dann nicht diese hier.) Heute ist einer dieser Tage, an denen ich mich nicht erinnern kann, ob ich diesen Teufel suche oder einfach vor ihm weglaufe. Ich stehe vor dem Spiegel, einem alten Spiegel in meinem Zimmer im Hôtel d’Esté. Das Glas hat moosartige Flecken, die seine gerundete Oberfläche hinaufkriechen. Ich binde mir den Schal um. Ich stehe hier und habe einen Finger auf der Narbe an meinem Hals, einer Rötung, die nie ganz verheilt. Ich frage mich, ob du mich findest, bevor ich ihn finden kann. Ich frage mich, ob er mich findet, bevor ich ihn finden kann. Ich frage mich, warum er mich noch nicht gefunden hat. Ich frage mich, ob ich dich je Wiedersehen werde.
Deine dich liebende Mutter, Helen Rossi
August 1962
Meine geliebte Tochter,
als du auf die Welt kamst, war dein Haar schwarz und klebte in Locken an deinem schleimigen Kopf Nachdem sie dich gewaschen und getrocknet hatten, lag es wie weiche Daunen um dein Gesicht, dunkel wie meines, aber auch kupferig wie das deines Waters. Ich schwamm in einem Bad aus Morphium, hielt dich in meinen Armen und beobachtete, wie das Leuchten in deinem Neugeborenenhaar zigeunerdunkel war und immer heller wurde, und dann wieder dunkler. Alles an dir war wie poliert und leuchtete. Ich hatte dich in mir geformt und poliert, ohne zu wissen, was ich tat. Deine Finger waren golden, deine Wangen rosig, deine Wimpern und Brauen wie die Federn einer kleinen Krähe. Mein Glück war noch weit stärker als das Morphium.
Deine dich liebende Mutter, Helen Rossi
66
Ich wachte früh auf meiner Pritsche im Männerschlafsaal des Klosters von Rila auf. Die Sonne schickte gerade ihre ersten Strahlen durch die kleinen Fenster, die auf den Hof hinausgingen, und einige der anderen Touristen schliefen noch tief und fest. Im Dunkel hatte ich den ersten Ruf der Kirchenglocke gehört, und jetzt rief die Glocke wieder. Mein erster Gedanke, als ich diesmal aufwachte, war, dass Helen gesagt hatte, sie wolle mich heiraten. Ich wollte sie sehen, so bald wie möglich sehen und einen Augenblick finden, um sie zu fragen, ob das gestern ein Traum gewesen war. Der Sonnenschein, der draußen den Hof überflutete, war wie das Echo meines plötzlichen Glücks, und die Morgenluft schien unglaublich frisch, voll mit Jahrhunderten der Frische.
Aber Helen war nicht beim Frühstück. Ranov war da, mürrisch wie immer, und rauchte, bis ein Mönch ihn höflich bat, doch mit der Zigarette nach draußen zu gehen. Direkt nach dem Frühstück ging ich den Korridor zum Schlafsaal der Frauen hinunter, wo Helen und ich uns in der letzten Nacht verabschiedet hatten. Die Tür stand offen. Die anderen Frauen, Tschechinnen und Deutsche, waren gegangen und hatten ordentlich gemachte Betten hinterlassen. Helen schlief offenbar noch, ich konnte ihre Gestalt auf einer Pritsche gleich beim Fenster sehen. Sie hatte sich zur Wand gedreht, und ich trat ein, leise, sagte mir, dass sie jetzt meine Verlobte sei und ich das Recht hätte, sie mit einem Gutenmorgenkuss zu wecken, selbst in einem Kloster. Ich schloss die Tür hinter mir und hoffte, dass nicht zufällig ein Mönch hereinkäme.
Helen hatte dem Raum ihren Rücken zugewandt. Als ich näher trat, rollte sie leicht herum, als spüre sie meine Anwesenheit. Ihr Kopf fiel etwas nach hinten, ihre Augen waren geschlossen, und die dunklen Locken flossen über das Kissen. Sie schlief tief, und ein hörbares, fast röchelndes Atmen drang durch ihre Lippen. Sie muss müde vom Reisen und dem Spaziergang am Tag zuvor gewesen sein, dachte ich, aber etwas an der völligen Verlorenheit ihrer Haltung ließ mich unsicher näher treten. Ich beugte mich über sie, wollte sie küssen, noch bevor sie aufwachte, und sah dann in einem einzigen schrecklichen Moment die grünliche Farbe ihres Gesichts und das frische Blut an ihrem Hals, wo die alte Wunde gewesen war, ganz unten: zwei kleine Wunden, rot und offen. Etwas Blut war auf dem weißen Laken und auch dort, wo sie im Schlaf mit dem Ärmel ihres billig aussehenden weißen Nachthemds die Wunde gestreift hatte. Der Ausschnitt ihres Nachthemds war zur Seite gezogen, leicht eingerissen, und eine ihrer Brüste lag fast bis zum Dunkel der Warze entblößt.
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