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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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All das sah ich im Bruchteil einer Sekunde, und mir war, als bliebe mein Herz stehen. Ich langte hinunter zu ihr und zog das Laken sanft über ihre Nacktheit, als deckte ich ein Kind für die Nacht zu. Ich konnte mir in dem Moment keine andere Bewegung vorstellen. Ein aufsteigendes Schluchzen schnürte mir die Kehle zu, eine Wut, die ich noch gar nicht richtig fühlte.
    ›Helen!‹ Sanft fasste ich sie bei der Schulter, aber sie reagierte nicht. Ich sah jetzt, wie mitgenommen sie wirkte, als litte sie selbst im Schlaf noch Schmerzen. Wo war das Kruzifix? Plötzlich erinnerte ich mich daran und sah mich überall um. Es lag neben meinem Fuß, die feine Kette war zerrissen. Hatte es ihr jemand heruntergerissen, oder war ihr das selbst im Schlaf passiert? Ich schüttelte sie. ›Helen, wach auf!‹
    Dieses Mal rührte sie sich, aber nur widerwillig, und ich fragte mich, ob ich ihr irgendwie Schaden zufügen könnte, wenn ich sie zu schnell aufweckte. Doch da öffnete sie bereits die Augen und zog die Brauen zusammen. Ihre Bewegungen waren sehr schwach. Wie viel Blut hatte sie in dieser Nacht verloren, in dieser Nacht, in der ich tief und fest einen Flur weiter geschlafen hatte? Warum hatte ich sie allein gelassen, diese und alle anderen Nächte?
    ›Paul‹, sagte sie, als sei sie verblüfft. ›Was machst du hier?‹ Sie schien sich aufsetzen zu wollen und sah, in welchen Zustand ihr Nachthemd war. Sie fuhr sich mit der Hand an den Hals, während ich ihr in stummer Qual zusah, und zog sie langsam zurück. An ihren Fingern klebte noch nicht ganz getrocknetes Blut. Sie starrte es an und sah dann zu mir. ›Oh Gott‹, sagte sie. Sie setzte sich auf, und ich spürte ein erstes Anzeichen von Erleichterung, trotz des Entsetzens in ihrem Gesicht. Hätte sie viel Blut verloren, wäre sie zu schwach dafür gewesen. ›Oh Paul‹, flüsterte sie. Ich setzte mich zu ihr, griff nach ihrer anderen Hand und drückte sie fest.
    ›Bist du völlig wach?‹, sagte ich.
    Sie nickte.
    ›Und du weißt, wo du bist?‹
    ›Ja‹, sagte sie, aber dann beugte sie den Kopf über die blutige Hand und brach in trockenes, leises Schluchzen aus, es klang schrecklich. Ich hatte sie nie weinen sehen. Dieser Laut jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken.
    ›Ich bin bei dir.‹ Ich küsste ihre saubere Hand.
    Sie drückte weinend die meine und versuchte dann, sich zu fassen. ›Wir müssen überlegen… Ist das mein Kruzifix?‹
    ›Ja.‹ Ich hielt es hoch und betrachtete sie genau, aber zu meiner unendlichen Erleichterung war auch nicht ein Anflug von Zurückschrecken auf ihrem Gesicht zu erkennen. ›Hast du es abgenommen?‹
    ›Nein, natürlich nicht.‹ Sie schüttelte den Kopf, und eine übrig gebliebene Träne rann ihr über die Wange. ›Und ich erinnere mich auch nicht, die Kette zerrissen zu haben. Ich glaube nicht, dass sie… er… es wagen würden, wenn die Legende stimmt.‹ Sie wischte sich über das Gesicht. ›Ich muss mir die Kette im Schlaf selbst zerrissen haben.‹
    ›Ich glaube es auch, sie lag da unten.‹ Ich zeigte ihr die Stelle auf dem Boden. ›Und bereitet es dir ein… unangenehmes Gefühl… es in deiner Nähe zu haben.‹
    ›Nein‹, sagte sie nachdenklich. ›Zumindest noch nicht.‹ Dieses kleine Noch machte mich frösteln.
    Sie streckte die Hand aus und berührte das Kruzifix, erst zögernd, dann nahm sie es in die Hand. Ich atmete erleichtert aus. Auch Helen seufzte. ›Vor dem Einschlafen habe ich noch über meine Mutter nachgedacht und über einen Aufsatz, den ich gern schreiben würde, über die Figuren in der transsilvanischen Stickerei – die sind berühmt, musst du wissen. Anschließend muss ich eingeschlafen sein und bin nicht einmal aufgewacht.‹ Sie runzelte die Stirn. ›Ich habe schlecht geträumt, und meine Mutter tauchte immer wieder auf und verscheuchte… einen riesigen schwarzen Vogel. Als er endlich weg war, beugte sie sich über mich und küsste mir die Stirn, genauso, wie sie mich als kleines Mädchen vor dem Einschlafen geküsst hat, und ich sah das Zeichen…‹ Sie machte eine Pause, als schmerze sie das Nachdenken ein wenig. ›Ich sah das Zeichen des Drachens auf ihrer nackten Schulter, aber es war für mich ein ganz normaler Teil von ihr, nichts Schreckliches. Und als sie mich auf die Stirn geküsst hatte, war ich längst nicht mehr so ängstlich.‹
    Ich fühlte eine seltsame Scheu in mir, wie ein Prickeln, und musste an die Nacht denken, in der ich offenbar den Mörder

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