Der Historiker
und die Manuskripte waren. Abgesehen von ein paar Bänden auf einem Holztisch sah ich kein Anzeichen einer Bibliothek.
›Das ist Bruder Ivan‹, erklärte Ranov. Der Mönch verbeugte sich, ohne uns die Hand zu geben. Er hielt die Hände vor dem Bauch verschränkt, versteckt in langen Ärmeln. Mir kam der Gedanke, dass er Helen nicht berühren wollte. Das Gleiche muss Helen durch den Kopf gegangen sein, denn sie trat zurück, fast hinter mich. Ranov wechselte ein paar Worte mit dem Mann. ›Bruder Ivan bittet Sie, sich doch zu setzen.‹ Wir setzten uns gehorsam hin. Bruder Ivan trug ein langes, ernstes Gesicht über seinem Bart, und er musterte uns ein paar Minuten. ›Sie können ihm Fragen stellen‹, sagte Ranov ermunternd.
Ich räusperte mich. Es half nichts, wir mussten unsere Fragen vor Ranov stellen. Ich würde wieder versuchen müssen, sie rein akademisch klingen zu lassen. ›Würden Sie Bruder Ivan bitte für uns fragen, ob er etwas von Pilgern weiß, die einst aus der Walachei in dieses Kloster gekommen sind?‹
Ranov fragte den Mönch, dessen Miene sich bei dem Wort ›Walachei‹ aufhellte. ›Er sagt, das Kloster hatte eine wichtige Beziehung zur Walachei, die zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts einsetzte.‹
Mein Herz begann heftiger zu schlagen, aber ich versuchte, ruhig zu bleiben. ›Ja? Was war das für eine Beziehung?‹
Sie sprachen wieder miteinander, und Bruder Ivan machte eine ausladende Geste zur Türe hin. Ranov nickte. ›Er sagt, zu der Zeit begannen die Herrscher der Walachei und Moldawiens, diesem Kloster große Unterstützung zukommen zu lassen. In der Bibliothek liegen Handschriften, in denen diese Unterstützung beschrieben wird.‹
›Weiß er, warum sie das taten?‹, fragte Helen ruhig.
Ranov gab die Frage an den Mönch weiter. ›Nein‹, sagte er. ›Er weiß nur, dass diese Aufzeichnungen die Unterstützung aufführen.‹
›Fragen Sie ihn‹, sagte ich, ›ob er von Pilgergruppen aus der Walachei weiß, die zu der Zeit herkamen.‹
Jetzt lächelte Bruder Ivan sogar. ›Ja‹, berichtete Ranov. ›Es gab viele. Bachkovo war für die Pilger aus der Walachei eine wichtige Station; von hier aus zogen viele zum Berg Athos oder nach Konstantinopel.‹
Ich hätte mit den Zähnen mahlen können. ›Aber weiß er auch von einer besonderen Gruppe Pilger aus der Walachei, die… so etwas wie Reliquien bei sich hatten? Kennt er eine solche Geschichte?‹
Ranov schien ein triumphierendes Lächeln zurückzuhalten. ›Nein‹, sagte er. ›Er kennt keinen Bericht über solche Pilger. Es gab viele Pilger in dem Jahrhundert, Bachkovski manastir war sehr wichtig. Der Patriarch von Bulgarien wurde aus seinem Sitz in Veliko Tarnovo, der alten Hauptstadt, hierher verbannt, als die Osmanen das Land eroberten. Er starb hier im Jahre 1404 und wurde auch hier beigesetzt. Der älteste Teil des Klosters, und der einzig ursprüngliche, ist das Ossuarium, das Beinhaus.‹
Jetzt ergriff Helen wieder das Wort. ›Könnten Sie ihn bitte fragen, ob unter seinen Brüdern ein Mönch ist, der früher einmal Pondev hieß?‹
Ranov übersetzte die Frage, und Bruder Ivan wirkte verblüfft, dann misstrauisch. ›Er sagt, das muss der alte Bruder Engel sein. Er hieß früher einmal Vasil Pondev und war Historiker. Aber er ist nicht mehr… ganz klar im Kopf. Sie werden nichts in Erfahrung bringen, wenn Sie mit ihm sprechen. Der Abt ist heute unser großer Gelehrter, und es ist schade, dass er weg ist, während Sie hier sind.‹
›Wir würden dennoch gern mit Bruder Engel sprechen‹, sagte ich zu Ranov, und es wurde arrangiert, obwohl der Bibliothekar heftigst die Brauen zusammenzog. Aber schließlich führte er uns hinaus in das gleißende Sonnenlicht und durch einen weiteren Bogen. So kamen wir in einen zweiten Hof, in dessen Mitte ein sehr altes Gebäude stand. Dieser zweite Hof war nicht so gepflegt wie der erste. Mauern und Pflaster machten einen heruntergekommenen Eindruck. Der Boden war voller Unkraut, und ich erinnere mich, dass in einer Ecke des Klosterdaches ein Baum wuchs. Nicht mehr lange wenn man ihn wachsen ließe, und er würde groß genug sein, um das, was ihn jetzt noch hielt, zu zerstören. Ich konnte mir leicht vorstellen, dass die Instandsetzung dieses christlichen Gebäudes nicht gerade weit oben auf der Prioritätenliste der bulgarischen Regierung rangierte. Rila war ihr Schaustück, mit seiner ›reinen‹ bulgarischen Geschichte und seinen Verbindungen zum Widerstand gegen die
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