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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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war. Draculas traurige Berühmtheit endete nicht mit seinem mysteriösen Tod und merkwürdigen Begräbnis im Winter 1476, sondern scheint nahezu unvermindert fortgelebt zu haben, bis sie im Licht der westlichen Aufklärung verblich.
     
    Der Text zu Dracula endete hier. Das war genug Geschichte für mich, um mich einen Tag lang zu beschäftigen, dennoch wanderte ich in die Abteilung für englische Literatur und stellte erstaunt fest, dass die Bibliothek über ein Exemplar von Bram Stokers Dracula verfügte. Es würde ein paar Besuche dauern, das Buch zu lesen. Ich wusste nicht, ob ich Bücher auch hätte ausleihen dürfen, aber selbst wenn es so gewesen wäre, hätte ich Stokers Roman nicht mit nach Hause bringen wollen, wo ich vor der schwierigen Wahl gestanden hätte, ihn zu verstecken oder vorsichtig offen hinzulegen. Stattdessen las ich Dracula auf einem rutschigen Stuhl an einem der Bibliotheksfenster sitzend. Wenn ich nach draußen lugte, konnte ich eine meiner liebsten Grachten sehen, den Singel mit seinem Blumenmarkt, und wie Leute an einem kleinen Stand einen Hering-Imbiss kauften. Ich hatte einen wundervoll abgeschiedenen Platz gefunden, an dem mich ein Bücherregal gegen die anderen Leser im Raum abschirmte.
    Dort, auf jenem Stuhl, erlaubte ich Stokers schauerlichem Schreckensroman, der immer wieder auch voller behaglicher viktorianischer Liebesgeschichten war, mich in seinen Bann zu ziehen. Was ich von dem Buch erwartete, wusste ich nicht wirklich. Folgte ich meinem Vater, hatte Professor Rossi es als Quelle zu Dracula für mehr oder weniger nutzlos gehalten. Der vornehme, abstoßende Graf Dracula des Romans war für mich eine faszinierende Figur, auch wenn sie nicht viel mit Vlad Tepes zu tun hatte. Und Rossi selbst war ja überzeugt gewesen, dass Dracula tatsächlich einer der Untoten geworden war – im Laufe der Geschichte. Ich fragte mich, ob ein Roman Grund für etwas so Außergewöhnliches sein könnte. Schließlich hatte Rossi seine Entdeckung lange nach der Veröffentlichung von Stokers Dracula gemacht. Andererseits war Vlad Dracula fast vierhundert Jahre vor Stokers Geburt jene Macht des Bösen gewesen. Es war alles äußerst verblüffend.
    Und hatte Professor Rossi nicht auch gesagt, dass Stoker viele taugliche Informationen aus Vampirlegenden gewonnen hatte? Ich hatte noch nie einen Vampirfilm gesehen – mein Vater mochte keine Horrorgeschichten, egal, welcher Art –, und die Grundaussagen des Romans waren mir neu. Laut Stoker konnte ein Vampir seine Opfer nur zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang angreifen. Ein Vampir lebte ewig, nährte sich vom Blut der Sterblichen und machte sie dadurch ebenfalls zu Untoten. Er konnte die Gestalt einer Fledermaus oder eines Wolfs annehmen oder auch als Nebel erscheinen. Mit Knoblauchknollen oder einem Kruzifix ließ er sich abwehren, endgültig töten konnte man ihn, indem man ihm einen Pflock ins Herz trieb, seinen Kopf abschlug und seinen Mund mit Knoblauch füllte, während er tagsüber in seinem Sarg schlief. Oder man schoss ihm eine Silberkugel ins Herz.
    Nichts davon hätte mich als solches in Schrecken versetzt, dazu schien mir das alles zu weit weg, zu abergläubisch, zu kurios. Es gab aber einen Aspekt der Geschichte, der mich nach der Lektüre nicht losließ, wenn ich das Buch zurück auf sein Regalbrett gestellt und mir sorgfältig die Seitenzahl notiert hatte, wo ich stehen geblieben war. Es war ein Gedanke, der mich verfolgte, die Treppe der Bibliothek hinunter und über die Grachtenbrücken bis an unsere Haustür. Dracula, so wie Stoker ihn sich vorstellte, hatte eine Art Opfer ganz besonders gern: junge Frauen.
    Mein Vater sehnte sich, wie er sagte, mehr denn je danach, im Frühling in den Süden zu fahren, und er wollte, dass auch ich die Schönheiten dort kennen lernte. Meine Ferien fingen sowieso bald an, und seine Gespräche in Paris würden nur ein paar Tage dauern. Ich hatte gelernt, keinerlei Druck auf ihn auszuüben, ob es nun um Reisen oder Geschichten ging: Wenn er so weit war, würde er schon weitererzählen, allerdings ganz bestimmt nicht zu Hause. Ich glaube, dass er diese dunklen Kapitel nicht in unser Haus lassen wollte.
    Wir fuhren mit dem Zug nach Paris und später dann mit dem Auto südlich in die Sevennen. Morgens arbeitete ich an zwei oder drei Aufsätzen in meinem zunehmend flüssigeren Französisch, die ich der Schule schicken würde. Einen davon habe ich noch, und selbst heute, Jahrzehnte später, ruft er in

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