Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
Vom Netzwerk:
mir, sobald ich ihn aufschlage, jenes Frankreich im Mai wach, das kaum zu beschreiben und unübersetzbar ist – den Geruch des Grases, das kein Gras war, sondern l’herbe, so frisch, dass man es hätte essen mögen, wie die gesamte französische Vegetation auf fantastische Weise kulinarisch wirkte: Zutaten zu einem Salat oder etwas, das man in Hüttenkäse hätte rühren können.
    Auf den Bauernhöfen rechts und links der Straßen kauften wir die Zutaten für Picknicks, die besser waren als alles, was uns ein Restaurant hätte bieten können: Schachteln voller frischer Erdbeeren, die in der Sonne rot leuchteten und nicht gewaschen werden mussten, Ziegenkäserollen, schwer wie Hanteln und mit rau-grauem Schimmel bedeckt, als wären sie über den Boden eines Kellers gerollt worden. Mein Vater trank dunkelroten Wein aus unetikettierten und nur ein paar Centimes kostenden Flaschen, die er nach jedem Mahl verkorkte und zusammen mit einem kleinen Glas wegpackte, das er sorgfältig in eine Serviette gewickelt hatte. Zum Nachtisch aßen wir frisch gebackene Baguettes aus dem letzten Ort, die wir mit dunkler Schokolade bestochen. Mein Magen schmerzte vor Wohlgefühl, und mein Vater sagte reuig, dass er eine Diät beginnen müsse, sobald wir zurück in unserem normalen Leben wären.
    Die Straße führte uns bis tief in den Süden und einen verwischten Tag oder zwei später hinauf in kühlere Berge. »Les Pyrénées-Orientales«, erklärte mein Vater mir und breitete eine Straßenkarte über eines unserer Picknicks. »Seit Jahren habe ich mir gewünscht, hierher zurückzukommen.« Ich folgte unserer Route mit dem Finger und fand, dass wir überraschend nah an Spanien herangekommen waren. Diese Erkenntnis und das wunderbare Wort »Orientales« versetzten mich in Erregung. Wir näherten uns dem Rand der mir bekannten Welt, und zum ersten Mal begriff ich, dass ich sie eines Tages weiter und weiter hinter mir lassen könnte. Mein Vater wollte ein ganz bestimmtes Kloster besuchen. »Ich glaube, wir können die Stadt, die unter ihm liegt, bis zum Abend erreichen«, sagte er, »und dann morgen zum Kloster hinauf wandern.«
    »Liegt es sehr hoch?«, fragte ich.
    »Etwa auf halber Höhe des Gebirgszugs, was ihm Schutz vor allen möglichen Invasoren bot. Erbaut wurde es im Jahre 1000. Unglaublich, wie es in die Felsen gemeißelt worden ist, selbst für die entschlossensten Pilger war es nur schwer zu erreichen. Aber dir wird die Stadt darunter ebenso gut gefallen. Es ist ein altes Bad. Wirklich reizend.« Mein Vater lächelte, als er das sagte, und doch wirkte er seltsam rastlos und faltete die Karte viel zu schnell wieder zusammen. Ich hatte das Gefühl, dass er mir bald schon eine weitere Geschichte erzählen würde. Vielleicht würde ich dieses Mal nicht einmal fragen müssen.
    Mir gefiel Les Bains tatsächlich, als wir es am späten Nachmittag, erreichten. Es war ein großer sandfarbener Felsenort, der sich auf einem kleinen Hügel ausbreitete. Die gewaltigen Pyrenäen hingen darüber, überschatteten alles außer seine breitesten, tiefer gelegenen Straßen, die sich bis zu den Flusstälern und den flachen Bauernhöfen unterhalb zogen. Die staubigen Platanen, eckig gestutzt um eine Reihe staubiger Plätze, boten kaum Schatten für die durch die Straßen spazierenden Bewohner und die Tische, auf denen alte Frauen gestickte Tischdecken und Flaschen mit Lavendelextrakt anboten. Wenn man nach oben schaute, konnte man die in der Ortsmitte stehende Kirche aus grobem Stein sehen, um die ganze Schwalbenschwärme ihre geschwungenen Bahnen zogen. Der Kirchturm schwamm bereits im enormen Schatten der Berge, einer Wand aus Düsterkeit, die auch diese Seite des Ortes mit sinkender Sonne Straße für Straße verdunkeln würde.
    Wir aßen ausgiebig – zuerst eine Art Gazpacho, dann Kalbskotelett – in einem Restaurant, das sich in einem Hotel aus dem neunzehnten Jahrhundert befand. Der Restaurantmanager stützte sich auf der Messingfußstange der Bar neben unserem Tisch ab und fragte uns gelangweilt, aber höflich nach unserer Reiseroute. Er war unscheinbar, ganz in makelloses Schwarz gekleidet, hatte ein schmales Gesicht und eine intensiv olivenfarbene Haut. Sein Französisch klang abgehackt, gewürzt mit etwas, das mir zum ersten Mal begegnete, und ich verstand weit weniger als mein Vater. Er übersetzte für mich.
    »Ah, natürlich – unser Kloster«, begann der maître, als mein Vater ihn darauf ansprach. »Wissen Sie, dass Saint-Matthieu

Weitere Kostenlose Bücher