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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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und wieder nach einer Verletzung abzusuchen. Aber ich war es, die verletzt worden war, noch vor diesen Bissen in meinen Hals, und meine Verletzung wollte nicht richtig heilen. Ich bekam Angst, dich zu berühren, mein vollkommener Engel.
    Deine dich liebende Mutter, Helen
     
     
    Juli 1963
    Meine geliebte Tochter,
    ich scheine dich heute mehr denn je zu vermissen. Ich bin im Universitätsarchiv in Rom. In den letzten zwei Jahren war ich zweimal hier. Die Wächter kennen mich und auch die Archivare. Der Kellner im Café gegenüber kennt mich ebenfalls und würde mich gern noch besser kennen lernen, wenn ich mich nicht kalt von ihm abwendete und so täte, als bemerkte ich sein Interesse nicht. Im Archiv gibt es Aufzeichnungen über die Pest von 1517, deren Opfer allerdings nur ein einziges Krankheitsmal aufwiesen: eine rote Wunde am Hals. Der Papst befahl, ihnen vor dem Begräbnis Pflöcke durchs Herz zu treiben und den Mund mit Knoblauch zu füllen. 1517. Ich versuche eine Karte seiner Bewegungen durch die Zeit anzulegen, oder – denn der Unterschied lässt sich unmöglich bestimmen – die seiner Diener. Diese Karte, eine Liste in meinem Notizbuch, füllt bereits viele Seiten. Was für einen Nutzen sie einmal haben wird, weiß ich noch nicht. Während ich daran arbeite, warte ich darauf, den Nutzen zu erkennen.
    Deine dich liebende Mutter, Helen
     
     
    September 1963
    Meine geliebte Tochter,
    ich bin fast so weit, aufzugeben und zu dir zurückzukehren. In diesem Monat hast du Geburtstag. Wie kann ich noch einen weiteren deiner Geburtstage verpassen? Ich würde sofort zu dir zurückkehren, aber ich weiß, dann ginge es wieder genauso. Ich würde meine Unreinheit spüren, wie zum ersten Mal vor sechs Jahren. Ich würde die alte Abscheu wieder empfinden und deine Vollkommenheit sehen. Wie kann ich ertragen, dass du um meine Verdorbenheit weißt? Welches Recht habe ich, deine glatte Wange zu berühren?
    Deine dich liebende Mutter, Helen
     
     
    Oktober 1963
    Meine geliebte Tochter,
    ich bin in Assisi. Diese erstaunlichen Kirchen und Kapellen den Berg hinauf erfüllen mich mit einem Gefühl von Verzweiflung. Wir hätten zusammen herkommen können, du in deinem hübschen Kleidchen und mit deinem Hut und ich und dein Vater, Hand in Hand, als Touristen. Stattdessen sitze ich in einer staubigen Klosterbibliothek und lese ein Dokument aus dem Jahr 1603. Zwei Mönche sind hier im Dezember jenes Jahres gestorben. Man fand sie im Schnee, die Hälse nur leicht verletzt. Mein Latein ist immer noch sehr gut, und mein Geld verschafft mir alle Hilfe, die ich zum Verständnis und Übersetzen brauche, genau wie zum Waschen meiner Kleider. Und es verschafft mir Visa, Pässe, Zugfahrkarten und einen falschen Personalausweis. Als ich klein war, hatte ich niemals Geld. Meine Mutter in ihrem Dorf wusste kaum, wie es aussah. Jetzt lerne ich, dass sich damit alles kaufen lässt. Nein, nicht alles. Nicht alles, was ich mir wünsche.
    Deine dich liebende Mutter, Helen

 
    69
     
     
     
    Jene Tage in Bachkovo gehören zu den längsten meines Lebens. Ich wollte sofort zu dem versprochenen Fest aufbrechen, wollte, dass es gleich begann, damit wir dieses eine Wort aus dem Lied – ›Drache‹ – bis an seine Heimstatt verfolgen konnten. Wobei ich auch den Augenblick fürchtete, der, wie ich glaubte, unweigerlich kommen musste, wenn sich dieser mögliche Anhaltspunkt ebenfalls in nichts auflöste oder sich als ohne Belang erwies. Helen hatte mich bereits gewarnt, dass Volkslieder eine besonders unsichere Sache seien: Ihre Ursprünge gingen zumeist über die Jahrhunderte verloren, ihre Texte veränderten sich, und ihre Sänger wüssten nur selten, woher das, was sie da sangen, stamme und wie alt die Lieder seien. ›Genau das macht sie zu Volkslieder‹, sagte sie wehmütig und strich meinen Kragen glatt, als wir an unserem zweiten Tag im Kloster wieder einmal im Hof saßen. Normalerweise verteilte sie keine kleinen Zärtlichkeiten wie diese, was darauf hinwies, dass sie besorgt war. Meine Augen brannten und mein Kopf schmerzte, als ich meinen Blick über das sonnenbeschienene Pflaster gleiten ließ, zwischen dem die Hühner herumkratzten. Es war ein schöner, ein seltener und in meinen Augen exotischer Ort, und wir saßen da und beobachteten, wie das Leben – wie schon seit dem elften Jahrhundert – darüber hinwegstrich: Die Hühner kratzten nach Essbarem, ein Kätzchen rollte sich neben unseren Füßen auf dem Boden, und das strahlende

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