Der Historiker
und zog Grimassen und blieb stumm. Nach einer Weile brachte mich dieses Schweigen an den Rand meiner Geduld. ›Fragen Sie ihn, ob er etwas über Dracula weiß!‹, rief ich. ›Vlad Tepes! Ist er dort begraben? Hat er je seinen Namen gehört? Den Namen Dracula?‹ Helen griff nach meinem Arm, aber ich war außer mir. Der Bibliothekar starrte mich an, obwohl er keinerlei Aufregung zu empfinden schien, und Ranov warf mir einen Blick zu, den ich mitleidig genannt haben würde, hätte ich ihm nähere Beachtung geschenkt.
Aber der Effekt, den meine Worte auf Pondev hatten, war Furcht erregend. Er wurde sehr blass, und wie große blaue Murmeln drehten sich die Augen in seinem Kopf. Bruder Ivan sprang vor und packte ihn, als er vom Stuhl glitt, und zusammen mit Ranov gelang es ihm, Pondev auf seine Pritsche zu bugsieren. Pondev war ein schwerfälliges Stück Masse, geschwollene blasse Füße ragten unter der Bettdecke hervor, und seine Arme schlugen willenlos umher. Als sie ihn sicher hingelegt hatten, holte der Bibliothekar einen Krug Wasser und besprenkelte das Gesicht des armen Mannes. Ich stand entgeistert daneben. Ich hatte ihn nicht in solche Qualen stürzen wollen, und vielleicht hatte ich damit gar eine unserer letzten verbleibenden Informationsquellen umgebracht. Nach einer Ewigkeit rührte sich Bruder Engel wieder und öffnete die Augen, aber jetzt waren sie wild und argwöhnisch wie die eines gehetzten Tieres, und dann sein Blick flackerte in Panik durch den Raum, als sähe er uns überhaupt nicht. Der Bibliothekar klopfte ihm auf die Brust und versuchte es ihm auf seinem Bett bequemer zu machen, aber der alte Mönch stieß zitternd seine Hände weg. ›Lassen wir ihn allein‹, sagte Ranov mit düsterer Miene. ›Er wird schon nicht sterben, wenigstens nicht wegen dem hier.‹ Wir folgten dem Bibliothekar aus dem Raum, schweigsam und wie erschlagen.
›Es tut mir Leid‹, sagte ich in der beruhigenden Helligkeit des Hofes.
Helen wandte sich an Ranov. ›Könnten Sie den Bibliothekar fragen, ob er noch mehr über dieses Lied weiß? Oder aus welchem Tal es stammt?‹
Ranov und der Bibliothekar wechselten einige Worte, der Mönch sah uns dabei an. ›Er sagt, es kommt aus Krasna Polyana, dem Tal auf der anderen Seite der Berge dort, im Nordosten. Sie können mit ihm in zwei Tagen zum Fest des Heiligen fahren, wenn Sie so lange hier bleiben wollen. Die alte Sängerin dort weiß womöglich mehr darüber. Auf jeden Fall wird sie Ihnen sagen können, wo sie es gelernt hat.‹
›Glaubst du, das bringt uns weiter?‹, murmelte ich Helen zu.
Sie sah mich nüchtern an. ›Ich weiß es nicht, aber sonst haben wir nichts. Da ein Drache darin vorkommt, sollten wir der Sache nachgehen. Bis dahin können wir Bachkovo gründlich erkunden, und wenn uns der Bibliothekar dabei hilft, vielleicht auch die Bibliothek benutzen.‹
Müde setzte ich mich auf eine steinerne Bank gleich am Rand der Galerie. ›Also gut‹, sagte ich.
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September 1962
Meine geliebte Tochter,
verflucht sei dieses Englisch! Aber wenn ich versuche, dir auf Ungarisch zu schreiben, nur ein paar Zeilen, weiß ich sofort, dass du mir nicht zuhörst. Du wächst mit dem Englischen auf. Dein Vater, der glaubt, dass ich tot bin, spricht Englisch zu dir, wenn er dich auf seine Schultern hebt. Er spricht Englisch zu dir, wenn er dir deine Schuhe anzieht – seit Jahren schon trägst du richtige Schuhe –, spricht Englisch, wenn er im Park deine Hand hält. Aber wenn ich auf Englisch zu dir spreche, fühle ich, dass du mich nicht hören kannst. Die ersten zwei Jahre habe ich dir keine einzige Zeile geschrieben, weil ich glaubte, dass du mich in keiner Sprache hören könntest. Ich weiß, dein Vater glaubt, ich bin tot, weil er nie versucht hat, mich zu finden. Wenn er es versucht hätte, wäre es ihm gelungen. Aber er kann mich in keiner Sprache hören.
Deine dich liebende Mutter, Helen
Mai 1963
Meine geliebte Tochter,
ich weiß nicht, wie oft ich dir schon im Stillen erklärt habe, dass wir in den ersten Monaten zusammen glücklich waren. Zu sehen, wie du aus dem Schlaf aufwachtest, wie deine Händchen zuckten, noch bevor sich sonst irgendein Teil von dir bewegte, und wie dann deine dunklen Wimpern zu flattern begannen, wie du dich strecktest, dein Lächeln – das alles erfüllte mich mit tiefer Freude. Dann passierte etwas. Es war nichts von außerhalb. Es war etwas in mir. Ich fing an, deinen so vollkommenen Körper wieder
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