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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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in ihren Schrein gelegt wurden, um ganz in seiner Nähe ihre Ruhe zu finden; als Pilger darauf niederknieten, um den Segen des Neomärtyrers zu empfangen. Er hatte dort all die Jahrhunderte geruht, bis ich ihn grob aus seinem Bett riss und ihn einer neuen Verwendung zuführte. Mehr vermag ich darüber nicht zu schreiben.

 
    73
     
     
     
    Mai 1954
    Ich habe niemandem, dem ich dieses hier schreiben könnte, und keine Hoffnung, dass es je gefunden werden wird, aber es schiene mir ein Verbrechen, nicht zu versuchen, mein Wissen niederzulegen, solange ich noch dazu fähig bin, und Gott allein weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt.
    Vor einigen Tagen wurde ich aus meinem Universitätsbüro entführt. Ich bin nicht sicher, vor wie vielen Tagen, aber ich nehme an, dass wir immer noch Mai haben. An jenem Abend hatte ich mich gerade von meinem Lieblingsstudenten und Freund verabschiedet, nachdem er mir sein Exemplar des dämonischen Buches gezeigt hatte, das ich seit Jahren zu vergessen versuchte. Ich gab ihm alle Hilfe mit auf den Weg, die ich ihm nur geben konnte. Als er gegangen war, schloss ich meine Bürotüre und saß eine Weile voller Bedauern und Furcht da. Ich wusste, ich hatte fahrlässig gehandelt. Ich hatte heimlich meine Nachforschungen über die Geschichte der Vampire wieder aufgenommen und dabei angestrebt, meine Kenntnisse über die Dracula-Legende zu vergrößern, um vielleicht sogar endlich das Rätsel um den Ort seines Grabes zu lösen. Die verstrichene Zeit, Vernunft und Stolz hatten mich zu dem Glauben verleitet, es hätte keine Konsequenzen, wenn ich meine Nachforschungen wieder aufnähme. Schon in diesem ersten Moment der Einsamkeit gestand ich mir meine Schuld ein.
    Es hatte mir einen schrecklichen Stich versetzt, Paul meine Unterlagen und die Briefe zu geben, die ich über meine Erfahrungen geschrieben habe, nicht weil ich das alles für mich behalten wollte – jeder Wunsch, meine Nachforschungen neu aufzunehmen, war in dem Augenblick verschwunden, als er mir sein Buch zeigte. Ich bedauerte nur sehr, dieses grausige Wissen in seine Hände geben zu müssen, auch wenn ich sicher war, dass er sich besser schützen konnte, wenn er mehr wusste. Ich konnte nur hoffen, dass ich und nicht Paul unter einer möglichen Strafe würde leiden müssen; nicht Paul mit seinem jugendlichen Optimismus, seinem leichten Gang und seiner noch unerprobten, blendenden Intelligenz. Paul kann nicht älter als siebenundzwanzig sein, ich dagegen blicke auf Jahrzehnte unverdienten Glücks zurück. Das war mein erster Gedanke. Meine nächsten Gedanken waren praktischerer Natur. Selbst wenn ich mich selbst schützen wollte, hatte ich keine Möglichkeit, das sofort zu tun. Meine Unterlagen hatte ich aufbewahrt, aber keine der überkommenen Mittel, das Böse fern zu halten: keine Kruzifixe oder Silbermunition, keinen Knoblauch. Ich hatte diese Dinge nie benutzt, nicht einmal auf der Höhe meiner Forschungsarbeit, aber jetzt begann ich zu bedauern, dass ich Paul geraten hatte, sich allein auf die Kraft der Vernunft zu verlassen.
    Diese Gedanken verlangten ein oder zwei Minuten, und wie sich herausstellte, hatte ich auch nicht mehr zur Verfügung. Dann war mit einem plötzlichen Schwall fauliger, kalter Luft plötzlich eine unglaubliche… Präsenz um mich herum, so dass ich kaum mehr etwas sehen konnte, und mein Körper schien sich vor Furcht von meinem Sessel zu erheben. Eingeschlossen war ich, geblendet in nur einem Augenblick, und ich dachte, dass ich sterben müsse, wenn ich auch nicht wusste, woran. Inmitten all dessen hatte ich die merkwürdigste Vision von Jugend und Liebreiz, mehr ein Gefühl als eine Vision, mein eigenes, jüngeres Ich schien mir ganz nahe, voll der Liebe für ein Ding oder einen Menschen. Vielleicht stirbt man so. Ist es so, dann hoffe ich, wenn meine Zeit kommt – und sie wird bald kommen, auf welch grausame Weise auch immer – , dass mich dann diese Vision, dieses Gefühl, im letzten Moment noch einmal erfüllt.
    Danach erinnere ich mich an nichts. Wie lange diese Zeitspanne andauert, kann ich immer noch nicht ermessen. Als ich langsam wieder zu mir kam, war ich erstaunt, am Lehen zu sein. Sekundenlang konnte ich nichts sehen oder hören. Es war wie das Aufwachen nach einer grausamen Operation, und ich wurde mir sogleich meiner Schmerzen bewusst, der Schwäche meines ganzen Körpers, den diese Schmerzen durchdrangen, des Brennens in meinem rechten Bein, in Kehle und Kopf. Die Luft war kalt und feucht,

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