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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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verlagerte sein Gewicht ein wenig und gab sich mehr dem Licht preis, schwieg aber immer noch. Ich konnte sein Gesicht jetzt besser sehen, und seine grausame Strenge ließ mich zurückfahren – die großen dunklen Augen unter den gerunzelten Brauen, die lange gerade Nase, die breiten knochigen Wangen. Sein Mund war, wie ich sah, zu einem grimmigen Lächeln geschlossen, ein rubinroter Bogen unter dem großen dunklen Schnurrbart. In einer Ecke der Lippen sah ich einen Fleck getrocknetes Blut. Oh Gott, wie mich das entsetzte! Der Anblick war Grauen erregend, und die sofortige Erkenntnis, dass es sich wahrscheinlich um mein Blut handelte, machte mich schwindlig.
    Er richtete sich noch stolzer auf und sah mir durch die Dunkelheit, die uns trennte, voll ins Gesicht. »Ich bin Dracula«, sagte er. Kalt und klar kamen die Worte aus seinem Mund. Ich hatte das Gefühl, dass sie Teil einer Sprache waren, die ich nicht kannte, aber dennoch problemlos verstand. Ich war unfähig, ein Wort über die Lippen zu bringen, und starrte ihn entsetzt und zu keiner Bewegung fähig an. Er war nur drei, vier Meter von mir entfernt, und er war unleugbar wirklich und von erstaunlicher Lebenskraft, ob er nun tot war oder nicht. »Kommen Sie«, sagte er im selben kalten, klaren Ton. »Nach der Reise sind Sie müde und hungrig. Ich habe Ihnen ein Abendessen angerichtet.« Seine Geste war anmutig, fast höflich. Juwelen blitzten an den breiten bleichen Fingern.
    In der Nähe des Feuers stand ein Tisch voller Terrinen. Ich konnte jetzt auch Essen riechen, gutes, wirkliches Essen für lebendige Menschen, und der Duft nahm mir fast die Besinnung. Dracula bewegte sich ruhig, schüttete Rotes aus einem Krug in einen Pokal, von dem ich im ersten Moment dachte, es müsse Blut sein. »Kommen Sie«, sagte er wieder, diesmal etwas sanfter. Er ging zurück zu seinem Stuhl und nahm wieder Platz, als dächte er, ich setzte mich eher zu Tisch, wenn er sich abseits hielte. Zögernd ging ich zu dem leeren Stuhl an der Tafel; meine Beine versagten mir fast ihren Dienst, aus reiner Schwäche und Angst. Ich setzte mich auf den dunklen Stuhl, brach förmlich darauf zusammen, und sah auf die Terrinen. Warum, fragte ich mich, hatte ich so einen Heißhunger, wo ich doch jeden Moment sterben mochte? Das war ein Geheimnis, das nur mein Körper verstand. Dracula sah von seinem Stuhl aus ins Feuer, ich konnte sein bösartiges Profil sehen, die lange Nase und das kräftige Kinn, das dunkle Haar über seiner Schulter. Er hielt die Hände nachdenklich aneinander gelegt, so dass sein Umhang und die bestickten weiten Ärmel zurückfielen und grüne Samtmanschetten sowie eine große Narbe quer über den Rücken der mir zugewandten Hand offenbarten. Seine Haltung war ernst und ruhig, und ich bekam das Gefühl, eher zu träumen, als bedroht zu werden, und so traute ich mich endlich, die Deckel einiger Schüsseln anzuheben.
    Plötzlich war ich so hungrig, dass es mir schwer fiel, nicht wie wild mit beiden Händen zu essen. Es gelang mir, die Gabel und das Messer mit dem Knochengriff in die Hände zu nehmen und mir ein Stück Brathuhn und auch noch ein Stück dunkles Wild aufzuschneiden. Es gab Kartoffeln und Haferschleim, hartes Brot und eine heiße Gemüsesuppe. Ich war völlig ausgehungert, zwang mich aber, langsam zu essen, damit ich keine Magenkrämpfe bekam. Der Silberpokal neben meinem Teller war randvoll mit einem schweren Rotwein – kein Blut –, und ich trank ihn bis auf den letzten Tropfen leer. Dracula machte keine Bewegung, während ich aß, dennoch musste ich alle paar Minuten zu ihm hinübersehen. Als ich fertig war, fühlte ich mich fast bereit zu sterben und war für eine lange Minute zufrieden. Deshalb also wurde einem Delinquenten kurz vor der Hinrichtung noch eine letzte Mahlzeit gewährt, dachte ich. Es war mein erster klarer Gedanke, seit ich in dem Sarkophag aufgewacht war. Langsam legte ich die Deckel auf die leeren Terrinen und versuchte, so wenig Lärm wie möglich dabei zu machen. Dann lehnte ich mich zurück und wartete.
    Es verstrich viel Zeit, bis sich mein Gefährte auf seinem Stuhl bewegte. »Sie haben Ihre Mahlzeit beendet«, sagte er. »Also können wir uns vielleicht ein wenig unterhalten, und ich erzähle Ihnen, warum ich Sie hergebracht habe.« Seine Stimme war wieder klar und kalt, aber ich bemerkte ein leichtes Rasseln, das tief in ihr mitzuschwingen schien, als wäre der Mechanismus, der sie hervorbrachte unendlich alt und angeschlagen.

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