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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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ergoss sich über die ganze Breite des Sarkophags. Besonders schrecklich fand ich die Sattheit der Farbe seiner Lippen und Wangen, diese gesunde Ausstrahlung, die von seinem Gesicht und Körper ausging, die er vorher im Schein des Feuers nicht gehabt hatte. Mich hatte er vorerst noch geschont, das stimmte, aber irgendwo da draußen in der Nacht hatte er sich seine Ration geholt. Der kleine Tropfen Blut an seinen Lippen war verschwunden. Rubinrot blühten sie jetzt unter seinem schwarzen Schnurrbart. Er wirkte so gesättigt mit künstlichem Leben, so untot gesund, dass es mir das Blut in den Adern gefrieren ließ, als ich sah, dass er nicht atmete: Seine Brust hob oder senkte sich nicht ein einziges Mal, auch keine Winzigkeit. Was ebenfalls seltsam war: Er trug andere Kleider, die aber so reich und edel wie die waren, in denen ich ihn vorher gesehen hatte: einen Waffenrock und Stiefel von tiefem Rot, einen Mantel und eine hohe Kappe aus purpurfarbenem Samt. Der Mantel war an den Schultern ein wenig abgewetzt, und an der Kappe steckte eine braune Feder. Der Kragen war mit Edelsteinen besetzt.
    Ich stand dort wie gebannt, bis mir von dem merkwürdigen Anblick schwindlig wurde, und so trat ich ein paar Schritte zurück und versuchte, meine Gedanken zu sammeln. Es war immer noch früh am Tag; ich hatte mehrere Stunden bis zum Sonnenuntergang. Zuerst würde ich nach einer Fluchtmöglichkeit suchen und dann nach Werkzeugen, mit denen ich diese Kreatur zerstören konnte, solange sie schlief, so dass ich, ob es mir nun gelang oder nicht, ihn zu überwinden, auf jeden Fall unverzüglich fliehen konnte. Ich hielt meine Kerze fest in der Hand.
    Es genügt zu sagen, dass ich diese große steinerne Höhle mehr als zwei Stunden lang absuchte, ohne einen Ausgang zu finden. Am einen Ende – dem Kamin gegenüber – gab es eine große Holztür mit einem eisernen Schloss, und ich zog und riss und mühte mich ab, bis ich nicht mehr konnte und mir die Glieder noch mehr schmerzten. Die Tür gab auch nicht einen Millimeter nach, sie war sicher viele Jahre nicht geöffnet worden, vielleicht Jahrhunderte. Einen anderen Ausgang gab es nicht, keine andere Tür, keinen Tunnel, keinen losen Stein oder sonst irgendeine Öffnung. Natürlich gab es auch keine Fenster, und ich war sicher, dass wir uns tief unter der Erde befanden. Die einzige Nische in den Wänden war die, in denen die Sarkophage standen, und auch dort waren die Steine nicht zu bewegen. Es war eine Folter für mich, an der Wand entlangzufühlen und dabei Draculas regloses Gesicht mit den weit geöffneten Augen im Rücken zu spüren. Obwohl sich diese Augen nie bewegten, hatte ich doch das Gefühl, dass sie über eine geheime Macht verfügten, mich zu beobachten und zu verfluchen.
    Ich setzte mich zurück an den Kamin, um meine dahinschwindenden Kräfte zu erneuern. Das Feuer brannte nicht herunter, stellte ich fest, als ich meine Hände darüber hielt, obwohl doch echte Äste und Scheite darin lagen und es eine spürbare, angenehme Wärme abgab. Erst jetzt fiel mir auch auf, dass es keinerlei Rauch produzierte. Hatte es nicht die ganze Nacht gebrannt? Ich wischte mir mit einer Hand über das Gesicht und warnte mich: Ich brauchte jede einzelne Zelle meines Verstands. Ja, und das nahm ich mir in diesem Moment fest vor: Ich würde es mir zur Aufgabe machen, meinen Verstand und mein moralisches Selbst bis zur letzten Sekunde intakt zu halten. Das würde mein Halt sein, der letzte, der mir noch blieb.
    Als ich mich wieder gesammelt hatte, begann ich erneut systematisch zu suchen, diesmal nach einer Möglichkeit, wie ich meinen abscheulichen Gastgeber zerstören konnte. Wenn es mir gelang, würde ich natürlich immer noch allein hier sterben, ohne Fluchtmöglichkeit, aber wenigstens würde dann auch diese Bestie diese Höhle nie mehr verlassen, um über die Welt draußen herzufallen. Flüchtig und nicht zum ersten Mal dachte ich an die Vorzüge der Selbsttötung, aber das durfte ich mir nicht erlauben. Ich lief jetzt schon Gefahr, wie Dracula zu werden, und der Legende nach konnte jeder Selbstmörder zum Untoten werden, auch ohne eine Infektion wie meine – eine grausame Legende, die ich aber beherzigen musste. Dieser Ausweg war mir verschlossen. Jeden Winkel und jedes Eck meines Gefängnisses durchkämmte ich, öffnete Schubladen und Kisten, untersuchte Regale und alles, was sich sonst noch untersuchen ließ. Es war unwahrscheinlich, dass der schlaue Fürst irgendeine Waffe herumliegen

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