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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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gebannt zugehört und die in seinem merkwürdigen Französisch erzählte Geschichte mit äußerster Konzentration in meinem Kopf zusammengesetzt. Mein Vater übersetzte nicht mehr, und jetzt hörte ich, wie seine Gabel auf den Teller schlug. Als ich zu ihm hinübersah, war er weiß wie ein Leintuch und starrte unseren neuen Freund an.
    »Könnten wir…« Er räusperte sich und wischte sich mit der Serviette ein-, zweimal über den Mund. »Könnten wir noch einen Kaffee bekommen?«
    »Aber Sie hatten noch nicht den salade. « Unser Gastgeber sah bekümmert aus. »Er ist ausgezeichnet. Und dann haben wir heute Abend poires belles-Hélène und schönen Käse, auch einen gâteau für die junge Dame.«
    »Sicher, sicher«, sagte mein Vater wie gehetzt. »Bringen Sie uns alles, ja.«
    Der tiefstgelegene der staubigen Plätze wurde von wummernder Lautsprechermusik erfüllt, als wir dort ankamen. Irgendein örtliches Fest wurde gefeiert mit zehn oder zwölf Kindern in Kostümen, die mich an »Carmen« erinnerten. Die kleinen Mädchen standen zitternd da, raschelten mit ihren gelben Taftrüschen, die ihnen von den Hüften bis zu den Knöcheln reichten, und wiegten ihre Köpfe anmutig unter den Spitzen ihrer mantillas. Die kleinen Jungen stampften mit den Füßen und knieten nieder oder umkreisten die Mädchen verächtlich. Alle Jungen trugen eine kurze schwarze Jacke, enge Hosen und einen Samthut. Wir konnten die Musik dann und wann anschwellen hören, begleitet von einem Geräusch wie dem Knallen von Peitschen. Ein paar Touristen standen im Kreis und sahen den Tänzern zu, und eine Reihe von Eltern und Großeltern saßen auf Klappstühlen bei dem leeren Brunnen und applaudierten, wann immer die Musik oder das Stampfen der Jungen zu einem Crescendo aufbrandete. Wir blieben nur ein paar Minuten, bevor wir uns der Straße zuwandten, die direkt von dem Platz zur Kirche oben führte. Mein Vater sagte nichts über die schnell versinkende Sonne, aber ich spürte, dass unsere Eile dem plötzlichen Tod des Tages zu danken war, und war nicht überrascht, als mit einem Mal alles Licht aus der wilden Landschaft verschwand. Der Rand der blauschwarzen Pyrenäen am Horizont hob sich hart gegen den Himmel ab, während wir an Höhe gewannen. Dann verschmolz er mit dem blauschwarzen Himmel. Der Blick vom Fuß der Kirche aus war beeindruckend – nicht Schwindel erregend wie Aussichten in den italienischen Städten, von denen ich immer noch träumte, sondern endlos weit, auf Ebenen und Hügel, die ins Vorgebirge übergingen und dann zu den dunklen Gipfeln hochwuchsen, die ganze Teile einer entfernten Welt verdeckten. Unter uns flammten die Lichter der Stadt auf, Menschen liefen Straßen und Gassen entlang, redeten und lachten, und ein Duft wie der von Nelken wehte aus den schmalen ummauerten Gärten. Schwalben flogen im Kirchturm ein und aus und zogen Kreise, als zeichneten sie etwas Unsichtbares in die Luft. Mir fiel eine auf, die wie betrunken zwischen den anderen Räder schlug, gewichtlos und doch fast unbeholfen, statt gewandt, bis ich feststellte, dass es sich um eine einzelne Fledermaus handelte, die gerade sichtbar war im schwindenden Licht.
    Mein Vater, der an der Wand lehnte, seufzte und legte ein Bein hoch auf einen Steinblock – war es ein Pfosten zum Anbinden von Tieren oder stieg man davon auf den Rücken von Eseln? Mein Vater überlegte dies laut, meinetwegen. Wozu immer der Block war, er sah seit Jahrhunderten von hier oben herunter, hatte zahllose, sich zum Verwechseln ähnliche Sonnenuntergänge gesehen und den noch relativ kurz zurückliegenden Übergang von Kerzenschein zu elektrischem Licht in den von hohen Mauern gesäumten Straßen und Cafés erlebt. Mein Vater wirkte wieder entspannt, wie er nach dem herrlichen Essen und dem Gang durch die völlig klare Luft so dasaß, doch seine Entspannung hatte etwas Vorsätzliches. Ich hatte mich nicht getraut, ihn nach seiner Reaktion auf die Erzählung des maître zu fragen, aber der Vorfall lehrte mich, dass es Geschichten geben mochte, die noch weit erschreckender für meinen Vater waren als die, die er mir zu erzählen begonnen hatte. Dieses Mal musste ich ihn nicht bitten, mit unserer Geschichte fortzufahren. Es war so, als zöge er sie im Moment etwas anderem vor, das weit schlimmer war.

 
    8
     
     
     
    13. Dezember 1930
    Trinity College, Oxford
     
    Mein lieber, unglücklicher Nachfolger,
    ich tröste mich heute ein wenig mit der Tatsache, dass dieses Datum im

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