Der Historiker
jeden Sommer etwa achttausend Besucher anzieht? Ja, das ist tatsächlich so. Aber die sind alle nett und ruhig, viele ausländische Christen, die zu Fuß hinaufsteigen. Es ist immer noch ein Ziel für echte Pilger. Sie machen morgens selber ihre Betten, und wir hören sie kaum kommen und gehen. Natürlich kommen auch viele Leute wegen les bains. Sie werden doch sicher auch unser Wasser genießen?«
Mein Vater antwortete, dass wir nach zwei Nächten schon wieder Richtung Norden müssten und dass wir morgen den ganzen Tag im Kloster verbringen wollten.
»Wissen Sie, es gibt hier viele Legenden, einige wirklich beachtliche, und alle sind sie wahr«, sagte der maître mit einem Lächeln, das sein Gesicht plötzlich gut aussehend wirken ließ. »Versteht die junge Dame mich? Sie würde sie vielleicht gerne kennen lernen.«
»Je comprends, merci«, sagte ich höflich.
»Bon. Ich werde Ihnen eine erzählen. Sie haben doch nichts dagegen? Bitte, essen Sie Ihre Koteletts – heiß sind sie am besten.« In dem Moment öffnete sich die Restauranttür, und ein lächelndes altes Paar, das nur aus dem Ort stammen konnte, kam herein und suchte sich einen Tisch aus. »Bon soir, buenas tardes«, sagte unser maître in einem Atemzug. Ich sah meinen Vater fragend an, und er lachte.
»Ja, wir hier oben sind ein wirkliches Gemisch«, sagte der maître und lachte ebenfalls. »Wir sind la salade, all die Kulturen hier. Mein Großvater sprach sehr gutes Spanisch, perfektes Spanisch, und er kämpfte drüben im Bürgerkrieg mit, als er schon ein alter Mann war. Wir lieben unsere verschiedenen Sprachen hier. Keine Bomben für uns, keine Terroristen wie bei den Basken. Wir sind keine Kriminellen.« Er sah sich unwillig um, als hätte ihm jemand widersprochen.
»Das erkläre ich dir später«, sagte mein Vater hinter vorgehaltener Hand.
»Dann erzähle ich Ihnen also eine Geschichte. Ich bin stolz darauf, sagen zu dürfen, dass man mich als den Historiker unserer Stadt bezeichnet. Essen Sie. Unser Kloster wurde im Jahre 1000 gegründet, das wissen Sie bereits. Eigentlich war es das Jahr 999, denn die Mönche, die sich den Flecken aussuchten, bereiteten sich auf die bevorstehende Apokalypse vor, Sie verstehen, die Jahrtausendwende. Sie kletterten in den Bergen herum und suchten nach einem Platz für ihre Kirche. Dann hatte einer von ihnen im Schlaf die Vision, dass Saint Matthieu vom Himmel herunterstieg und eine weiße Rose auf dem Gipfel über ihnen niederlegte. Am nächsten Tag kletterten sie hinauf und weihten den Berg mit ihren Gebeten. Sehr hübsch. Sie werden das Kloster mögen. Aber das ist nicht die große Legende. Das ist erst die Gründung der Klosterkirche.
Also, als das Kloster und seine kleine Kirche gerade mal hundert Jahre alt waren, kam einer der frommsten Mönche, der die jüngeren unterrichtete, auf mysteriöse Weise ums Leben. Er war in den besten Jahren gewesen und hieß Miguel de Cuxa. Die Trauer um ihn war groß, und er wurde in der Krypta begraben.
Sie wissen, das ist die Krypta, die uns hier berühmt macht, weil sie das älteste Zeugnis romanischer Architektur in Europa darstellt. Ja!« Er klopfte mit seinen langen, stumpfen Fingern steif auf die Bar. »Ja! Es gibt Leute, die diese Ehre Saint-Pierre zuschreiben, vor den Toren Perpignans, aber sie lügen nur, um den Tourismus anzuheizen.
Nun ja, dieser große Gelehrte wurde also in der Krypta beigesetzt, und bald darauf senkte sich ein Fluch über das Kloster. Einige Mönche starben an einer merkwürdigen Krankheit. Sie wurden einer nach dem anderen tot im Kreuzgang aufgefunden – der Kreuzgang ist wunderschön, er wird Ihnen gefallen. Er gehört zu den schönsten Europas. Die toten Mönche wurden also gefunden, weiß wie Geister, als hätten sie kein Blut mehr in den Adern. Alle dachten an Gift.
Am Ende stieg ein junger Mönch – er war der Lieblingsschüler des Mönchs gewesen, der so früh gestorben war – hinunter in die Krypta und grub seinen Lehrer aus, gegen den Wunsch des Abtes, der voller Angst war. Und sie fanden den Lehrer lebendig – nicht wirklich lebendig, wenn Sie wissen, was ich meine. Einen lebenden Toten. Er erwachte nachts, um den anderen Mönchen ihr Leben zu nehmen. Um der Seele des Ärmsten ihren Frieden zu geben, holten sie heiliges Wasser vom Heiligtum oben auf dem Berg und nahmen einen scharfen Pflock…« Er zeichnete einen dramatischen Umriss in die Luft, damit ich begriff, wie scharf dieser Pflock gewesen war. Ich hatte ihm wie
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